Huszti und die "beschissene" Seite 88

Von Thomas Jahn
Szabolcs Huszti: Seinem Last-Minute-Traumtor folgte ein vieldiskutierter Platzverweis
© Getty

Szabolcs Husztis Platzverweis nach dem Siegtreffer gegen Werder Bremen wirft große Zweifel am DFB-Regelwerk auf. Dennoch lässt sich Hannover 96 die Freude an der Rückkehr des Ungarn nicht verderben und feiert seine "Weltklasseleistungen".

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Nach 93 Minuten zog Lars Stindl zum letzten Mal voll an. Er spurtete so schnell, wie es seine müden Beine noch hergaben. Mit letzter Kraft jagte er seinen Teamkollegen Szabolcs Huszti, der Hannover 96 soeben mit einem potenziellen Tor des Monats zum Last-Minute-Sieg gegen Nordrivale Werder geschossen hatte und mit blankem Oberkörper wie ein Derwisch auf die Nordkurve zuraste.

Doch der Torschütze war nicht mehr einzuholen - ein verlorenes Laufduell mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Denn: Als Stindl den entfesselten Ungarn endlich zu fassen bekam, war das Kind bereits in den Brunnen gefallen.

Huszti hatte den Stadionzaun erklommen und sich für wenige Sekunden von der bebenden Menge in der AWD-Arena feiern lassen, bevor sein Mannschaftskamerad ihn entschlossen herunterzog. Stindl schien trotz aller überschäumenden Emotionen die Seite 88 des DFB-Regelwerks vor seinem inneren Auge präsent gehabt zu haben - ganz im Gegensatz zu Huszti.

Aytekin: "Ich bin nur die Exekutive"

"Ein Spieler wird verwarnt, wenn er an einem Zaun hochklettert, um einen Treffer zu feiern, sein Hemd über seinen Kopf auszieht oder es ganz oder teilweise über seinen Kopf stülpt", heißt es in einem Passus der Regel 12 zu verbotenem Spiel und unsportlichem Betragen.

Eine Regel, die freilich auch Schiedsrichter Deniz Aytekin kennt. Die Folgen sind bekannt: Gelb für Trikotausziehen, Gelb für die Klettereinlage, Platzverweis für den Helden von Hannover. "Mir blieb nichts anderes übrig, ich bin nur die Exekutive", sagte Aytekin, dem die aus seiner sicht unvermeidliche Entscheidung selbst Bauchschmerzen bereitete: "Es tut mir weh und leid, aber so sind die Regeln."

Huszti selbst gab sich reumütig: "Das Ganze war ein bisschen doof von mir, aber ich wusste das nicht". Auch 96-Coach Mirko Slomka nahm den Unparteiischen nach der Partie zunächst in Schutz: "Die Szene ist absolut regelgerecht bewertet worden." Inzwischen hat der Klub jedoch Einspruch gegen die Sperre eingelegt.

Begründung: Huszti habe die erste Karte nicht entgegen genommen und somit keine Chance gehabt darauf zu reagieren und sein Verhalten vor der zweiten Verwarnung entsprechend anzupassen.

DFB-Regelwerk ließ Aytekin Spielraum

Was bleibt, ist die Frage, ob Aytekins Entscheidung tatsächlich unumgänglich war. Neben dem klar definierten Strafmaß lässt die Regel Nummer 12 dem Schiedsrichter in einem späteren Absatz nämlich durchaus Spielraum in der Auslegung zu. Demnach werde von den Referees erwartet, dass sie "bei der Beurteilung des Torjubels gesunden Menschenverstand walten lassen."

Ob Aytekin eben diesen gesunden Menschenverstand aufgrund fehlenden Fingerspitzengefühls oder etwa aus Angst vor einer möglichen Abstufung im strengen DFB-Bewertungssystem für Schiedsrichter hat stecken lassen, wird wohl sein Geheimnis bleiben.

Korrekte Regelauslegung oder unmündige Paragraphenreiterei hin oder her: Fest steht, dass mit jener Regel Nummer 12 weder Spielern noch Schiedsrichtern oder Fans geholfen ist. "Von uns werden Woche für Woche Emotionen gefordert. Und wenn man sie dann zeigt, wird man bestraft. Das ist eine beschissene Regel", sagte 96-Kapitän Steven Cherundolo treffend.

Huszti hat mit seinem Verhalten weder Werders Fans provoziert, noch mutwilliges Zeitspiel betrieben. Sein Jubellauf war ein simpler Ausdruck von Freude und - im Gegensatz zu anderen mit Gelb geahndeten Vergehen - nicht im Keim destruktiv motiviert.

DFB kommt ins Grübeln

Sogar DFB-Schiedsrichterwart Lutz Wagner drückte daher Zweifel an der Sinnhaftigkeit des besagten Paragraphen aus. "Ich empfinde die Entscheidung als unangemessen, das steht in keinem Verhältnis zu einem Tritt oder einem anderen Foulspiel."

Dennoch geht er nicht von einer schnellen Änderung aus. Diese obliegt ohnehin dem International Football Association Boards, das im Allgemeinen nicht für seine zeitnahen Umsetzungen von Regeländerungen bekannt ist. Wesentlich schnellere Entscheidungen brachte der Fall Huszti dafür bei Hannover 96 mit sich.

Entgegen der gültigen Standard-Regelung muss der 29-Jährige für seinen Platzverweis lediglich 500 Euro in die Mannschaftskasse, nicht aber die gängige 1000-Euro-Strafe an den Verein zahlen.

Cherundolo über Huszti: "Weltklasse"

Denn ungeachtet des großen Wirbels um Husztis Hinausstellung überwiegt bei 96 die Freude über dessen bärenstarke Vorstellungen auf dem Platz. Vier Assists gegen Wolfsburg, zwei Treffer und eine Vorlage gegen Werder - Huszti spielt derzeit in der Form seines Lebens und führt die Scorerliste der Liga noch vor zwei Bayern-Stars an.

"Einer der besten Kreativspieler der Bundesliga", lobt Coach Slomka. Auch Keeper Ron-Robert Zieler ("Fantastisch, was er die letzten beiden Spiele geleistet hat") und Cherundolo ("Die letzten beiden Spiele von ihm waren weltklasse") schwärmen vom Flügelflitzer.

Und die Weltklasse-Leistungen kommen von einem wahrhaftigen Schnäppchen: Für kolportierte 750.000 Euro soll 96-Boss Martin Kind den Ungarn im Sommer aus St. Petersburg zurück an die Leine zurückgeholt haben, nachdem er 2009 für das Vierfache dieser Summe aus Hannover nach Russland transferiert worden war.

Rückkehr dank Gehaltsverzicht

Der russische Fußball sowie der höhere Leistungs- und Konkurrenzdruck bei Zenit schienen eine hemmende Wirkung auf den Ungarn ausgeübt zu haben. Huszti kam angesichts hochklassiger Mitbewerber wie Danny, Danko Lazovic oder Andrej Arschawin nie richtig in Tritt und nicht über die Reservistenrolle hinaus. Coach Luciano Spaletti verbannte ihn zuletzt sogar ins Reserveteam.

Huszti selbst, zwischen 2006 und 2009 gefeierter Publikumsliebling der 96-Fans, machte die überraschende Rückkehr zu seiner "Alten Liebe" schließlich durch massive Abstriche bei seinem 2-Millionen-Gehalt möglich. "Es fühlt sich ein bisschen an, wie nach Hause zu kommen", sagte er bei seiner Vorstellung.

Huszti und 96 - das passt. Nach einer eher unauffälligen Saisonvorbereitung blühte er - auch dank Slomkas anhaltenden Vertrauen - in der niedersächsischen Komfortzone auf. Schnell ließ er Fans und Verantwortliche wieder von Gänsehaut-Momenten wie seinem unvergessenen Freistoß-Siegtor gegen den FC Bayern aus dem Jahr 2008 träumen.

Huszti als X-Faktor im 96-Spiel

Huszti verleiht Hannover zusätzlich zum Slomka-Trademark, dem überfallartigen Konterspiel, eine weitere brandgefährliche Waffe für die Offensive.

Mit seinen Tempodribblings, den maßgenauen Standards und einer individuellen Klasse, die in Slomkas Kader wohl ihresgleichen sucht, hat Hannover einen neuen X-Faktor in seinen Reihen.

Einen X-Faktor, der durch die Dürrezeit in St. Petersburg gereift ist, der sich trotz seiner Klasse unterzuordnen weiß und sich perfekt in ein bereits funktionierendes Team integriert hat. Einer, der es schlichtweg schätzt, in jener Mannschaft spielen zu dürfen und sich mit ihr identifiziert.

So brachte spätestens jener denkwürdige Samstag gleich zwei Erkenntnisse mit sich: Während sich Coach Slomka endgültig sicher war, einen "tollen Profi" zurückgeholt zu haben, stellte Huszti fest: "Immerhin habe ich ein neues Wort gelernt: Zaun."

Szabolcs Huszti im Steckbrief