Wie verändert Marco Reus das BVB-Spiel?

Von SPOX
"Uns kommt das Potenzial zu den Ohren raus", sagt Jürgen Klopp über sein Team
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Nach dem Abgang von Shinji Kagawa muss Borussia Dortmund die Zehnerposition neu besetzen. Vieles deutet darauf hin, dass Neuzugang Marco Reus diese Rolle einnehmen wird. Doch was wird dadurch anders sein im Spiel des Deutschen Meisters? Ein SPOX-Redakteur und drei Experten, die den BVB täglich begleiten, geben eine Antwort.

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Reus macht das BVB-Spiel flexibler

Matthias Dersch (28) ist Sportredakteur bei den Dortmunder Ruhr Nachrichten und berichtet über Borussia Dortmund und die deutsche Nationalmannschaft. Den BVB begleitet er seit der Saison 2008/2009 und ist auch auf Twitter aktiv.

Shinji Kagawa ist weg, Marco Reus ist da - doch was bedeutet das konkret für Borussia Dortmund? Natürlich, das Spiel des Doublesiegers wird sich durch den Abgang des japanischen Regisseurs verändern. Kagawa arbeitete viel nach hinten mit, ging weite Wege, setzte in der Offensive Akzente. Große Fußstapfen also für Reus. Doch der Königstransfer des Sommers macht derzeit nicht den Eindruck, als könne er sie nicht füllen.

Unbekümmert und frech agiert Reus im Training und in den Tests. Es kristallisiert sich heraus, dass er die zentrale Rolle von Kagawa übernehmen wird. Dort kommen seine Stärken derzeit am besten zur Geltung. Er kommt von dort gut in den Abschluss und kann die Flügelspieler mit seinem guten Gespür für sich öffnende Räume hervorragend bedienen. Defensiv indes wird er noch draufpacken müssen. Das Spiel gegen den Ball zählte bislang nicht zu seinen Stärken. Es wird sicherlich noch etwas Zeit benötigen, bis er das BVB-Spiel vollständig verinnerlicht haben wird.

Doch Reus in der Zentrale macht den BVB mittelfristig sogar flexibler als er es mit Kagawa war. Dadurch, dass Reus auch auf den Außen spielen kann, ist ein fließender Seiten- und Positionswechsel in der offensiven Dreierreihe der Dortmunder denkbar. Auch ein Spieler wie Ilkay Gündogan besitzt die Fähigkeiten, sich von der Sechser-Position in die Offensive vorzuschieben. Der BVB in der kommenden Saison ist somit vieles, ganz sicher aber nicht ausrechenbar.

Ohnehin steckt im Kader so viel Qualität, dass Jürgen Klopp gleich zwei hochklassige Mittelfeldreihen aufstellen könnte. Jakub Blaszczykowski oder Mario Götze? Kevin Großkreutz oder Ivan Perisic? Sebastian Kehl oder Sven Bender? Klopps Alternativen sind hochwertig. Nie war der BVB in der Breite so stark besetzt. Und in Moritz Leitner und Leonardo Bittencourt stehen junge Akteure in der zweiten oder gar dritten Reihe, die ebenfalls das Zeug zum überdurchschnittlichen Bundesliga-Profi besitzen.

 

Der BVB wird noch unberechenbarer

Stefan Schinken berichtet seit drei Jahren als Redakteur beim RevierSport über den Fußball im Ruhrgebiet. Seit dieser Saison begleitet er Borussia Dortmund.

Es steht außer Frage, dass Dortmund mit Shinji Kagawa einen Fußballer verloren hat, der zu den spektakulärsten Spielern gehört, die in der Bundesliga ihr Können gezeigt haben. Fintenreich, wendig, blitzschnell, ball- und passsicher, torgefährlich - es gibt kaum eine bei Offensivspielern gerne gesehene Eigenschaft, die der Japaner nicht besitzt. Und trotzdem: Der Aufschrei war vergleichsweise leise, als Kagawas Wechsel zu ManUnited verkündet wurde.

Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 2011: Der BVB war nach dem Gewinn der Meisterschaft noch in Partystimmung, da verkündete Nuri Sahin seinen Abgang. Die Unkenrufe damals: Der BVB sei ohne seinen Dirigenten nur noch die Hälfte wert, Sahins Abgang könne unmöglich kompensiert werden.

Dass eine vergleichbare Weltuntergangsstimmung dieses Mal ausblieb, liegt zuallererst an der Verpflichtung von Marco Reus. Er präsentierte sich in Mönchengladbach fintenreich, wendig, blitzschnell, ball- und passsicher und torgefährlich. Kurz: Der 23-Jährige scheint der perfekte Kagawa-Ersatz, doch dabei ist er viel mehr als das.

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Während der Japaner auf die zentrale Position im offensiven Mittelfeld festgelegt war, kann Reus in der offensiven Dreierreihe jede Position bekleiden. Weil auch alle seine Mitspieler, ganz gleich ob Mario Götze, Jakub Blaszczykowski, Kevin Großkreutz, Ivan Perisic, Moritz Leitner oder Leonardo Bittencourt, variabel einsetzbar sind, wird das Dortmunder Spiel ohne Kagawa nichts von seiner Gefährlichkeit einbüßen.

Jürgen Klopp hat im offensiven Mittelfeld ungemein viele Kombinationsmöglichkeiten und, besonders wenn Götze wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist, die Qual der Wahl. Selbst während der Spiele bleibt die taktische Ausrichtung flexibel.

Die zum Start wahrscheinlichste Offensivreihe - Großkreutz links, Reus zentral, Blaszczykowski rechts - kann immer wieder rochieren und sich damit dem Zugriff der gegnerischen Abwehrreihen entziehen.

Nicht minder schwer dürfte dem Meistertrainer die Auswahl im defensiven Mittelfeld fallen. Während die Kombination Sven Bender/Sebastian Kehl für etwas mehr Stabilität steht, kann Ilkay Gündogan am ehesten als Schaltstation zwischen Abwehr und Angriff fungieren und das Offensiv-System noch variantenreicher machen. Fest steht: Der BVB wird für seine Gegner noch unberechenbarer sein.

Reus wird Rhythmus und Tempo bestimmen

David Nienhaus (34) ist seit fünf Jahren Redakteur bei DerWesten.de, dem Internetportal der WAZ-Mediengruppe tätig, begleitet Borussia Dortmund im dritten Jahr und ist auch bei Twitter aktiv.

Mal eben durchzählen: 4-2-3-1, alle da. Die Fans von Borussia Dortmund können sich auch in der kommenden Saison beruhigt zurücklehnen und der (erfolgreichen) Dinge harren, die da kommen werden. Denn: viel ändert sich nicht beim Doublesieger. Die Taktik wird dieselbe bleiben, ebenso wie die Spielphilosophie. Jürgen Klopp wird auch 2012/2013 sein System weiter verfeinern und die junge Mannschaft wird taktisch reifen. Zumal mit Shinij Kagawa nur ein Stammspieler den Verein verlassen hat, der aber mehr als adäquat durch Marco Reus ersetzt wurde.

Ich glaube, dass eben dieser Reus im Offensivspiel Rhythmus und Tempo bestimmen und äußerst variabel im Angriffsspiel agieren wird. Gemeinsam mit seinen Mitspielern in der Abteilung Attacke rotieren die drei offensiven Mittelfeldspieler ständig hin und her, um es dem Gegner möglichst schwer zu machen, Zugriff zu bekommen. Einen wirklichen Spielmacher gibt es im System Klopp erneut nicht. Der beste Zehner sei das Gegenpressing, sagte Klopp in einem Interview.

Der Erfolgscoach ist auf der Suche nach dem perfekten Spiel, weiß jedoch, dass das wohl nur auf dem Reißbrett existiert. Doch mit der extrem hohen Einsatz- und Laufbereitschaft, dem aggressiven Pressing, kompakter Abwehrarbeit und dem schnellen Umschalten von Defensive auf Offensive bewegt sich Borussia schon zeitweise sehr nahe an der Perfektion. Ich bin sicher, dass Dortmund wieder mit modernem Fußball marschieren wird.

Allerdings bleibt abzuwarten, was aus Mario Götze wird. Der Youngster muss nach einer schwachen Saison mit einer langwierigen Verletzung erst wieder in Tritt kommen. Ich glaube, dass der BVB mit einem gesunden Götze das Potenzial hat, erneut den Titel zu verteidigen.

Spontane Systemwechsel - wenn es passt

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar

Die Vorbereitungsphase beim BVB zeigte: Marco Reus soll die Lücke, die Shinji Kagawa im System hinterlässt, auffüllen. Spannend ist dabei die Frage, wie der Ex-Gladbacher die Rolle auf der Zehn interpretieren wird und was sich dadurch am Spiel des Doublesiegers verändern könnte.

Reus ist anders als Kagawa ein Spieler, der weniger für überraschende Drehungen und Wendungen steht, sondern ins Tempo geschickt werden muss. Kagawa bot sich teilweise schon kurz hinter der Mittellinie an und löste damit den ersten Impuls im Offensivspiel aus. Reus wird sich beim BVB weniger als Ballschlepper betätigen und vielmehr mit Zug in die Spitze zu Robert Lewandowski stoßen. Wie in den meisten Testspielen zu sehen war, rückt dann bei eigenem Ballbesitz meist Ilkay Gündogan von der Doppelsechs ins zentrale Mittelfeld und die Systematik verändert sich in ein kompaktes 4-4-2.

Eine weitere Erkenntnis der Vorbereitung: Mit der Kugel am Fuß wird das 4-2-3-1, welches auch das Kernsystem bleibt, in ein 3-5-2 aufgebrochen.

Dies dürfte aber nur gegen sehr tief stehende Gegner zu Rate gezogen werden. Solche Kontrahenten, die der Borussia in Teilen der Vorsaison große Probleme bei der Suche nach spielerischen Lösungsmöglichkeiten bereiteten, bearbeitete Dortmund bislang im 4-2-3-1 (sofortiges, sehr hohes Pressing, nach Balleroberung entweder direkter Gegenangriff oder behutsamer Neuaufbau).

Im 3-5-2 stoßen die Außenverteidiger ins Mittelfeld vor, um dort zusätzlichen Druck auszuüben. Die Innenverteidiger ziehen sich auseinander, einer der Sechser - eher Bender oder Kehl als Gündogan - lässt sich tief fallen. Der Vorteil: Im Fünfermittelfeld gibt es nun vier offensiv denkende Spieler, lediglich Gündogan agiert etwas dahinter als Sechser. Reus schlüpft in dieser Anordnung dann wieder in die Rolle des zweiten Stürmers.

Diese taktischen Varianten werden jedoch nichts an der grundsätzlichen Ausrichtung ändern. Sie sind vielmehr Ansätze des Trainers, eine gewisse Unberechenbarkeit in Dortmunds Spielvortrag zu bekommen. Dazu werden neben den bereits bekannten Rochaden der Mittelfeldakteure eben auch Änderungen im System an sich gehören - allerdings nur, wenn es die jeweilige Spielsituation hergibt.

Borussia Dortmund: Der Kader in der Saison 2012/2013