"Cantona ist unter aller Sau"

Von Interview: Haruka Gruber
Jörg Stiel bei der EM 2004 im Einsatz für die Schweiz gegen Frankreich und Zinedine Zidane
© Imago
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SPOX: Half es Ihnen auf dem Weg der Selbsterkenntnis, nicht mehr nur als Fußballer zu leben, sondern parallel eine Stelle bei einem Bauunternehmen anzunehmen?

Stiel: Ich wollte unbedingt herausfinden, ob ich mehr kann als nur Fußballspielen. Das brauchte ich für mein Selbstwertgefühl. Daher fing ich nicht nur bei dem Bauunternehmen an und trainierte nebenbei in St. Gallen, sondern ging außerdem auf eine Schule für kaufmännische Ausbildung - und bekam zeitgleich meine erste Tochter. Es war eine unglaublich stressige Zeit, die mich jedoch voranbrachte. Erst so habe ich erkannt, zu was ich zu leisten imstande bin. Es war eine Initialzündung.

SPOX: Wie sah Ihr damaliger Alltag aus?

Stiel: Morgens bin ich ins Büro und ging halbtags meiner Arbeit als Bausekretär nach: Meine Firma war eine sogenannte Generalunternehmung, die beim Hausbau vom Architekten bis zur Reinigungskraft alles koordiniert, und meine Aufgabe bestand darin, in der Administration für den reibungslosen Ablauf zu sorgen. Mittags fuhr ich rüber zum FC St. Gallen für das Training, abends stand die Abendschule an. Dieser geordnete Ablauf brachte Stabilität in mein Leben.

SPOX: Trotz der Mehrfach-Belastung gelang Ihnen aus dem Nichts der Durchbruch als Torwart - im gesetzten Alter von 32 Jahren. 2000 gewannen Sie mit St. Gallen sensationell die Schweizer Meisterschaft und debütierten in der Nationalmannschaft. Ein Jahr später wurde sogar Mönchengladbach auf Sie aufmerksam und holte Sie in die Bundesliga.

Stiel: Ich bin kein Esoteriker und es soll nicht zu durchgeknallt klingen. Aber mittlerweile kenne ich die Kraft des adäquaten Wünschens. Ich musste die Kunst lernen, richtig wünschen zu können. Früher habe ich mich nicht auf das Wesentliche konzentriert, doch als ich anfing, realistische Ziele zu formulieren, klappten sie auch. Der Wechsel nach Mönchengladbach ist das perfekte Beispiel: Wir besiegten im UEFA-Cup den FC Chelsea und schieden danach unglücklich gegen Brügge aus. Nach diesen Spielen sagte ich meinem Berater, dass ich in eine große Liga will - und es hat geklappt, obwohl ich schon 33 Jahre alt war.

SPOX: Dabei sprach nichts dafür, dass ein Bundesligist Sie verpflichtet.

Stiel: Eigentlich suchte Gladbach einen linken Außenverteidiger. Ich war ohnehin zu klein und zu alt, um in Betracht gezogen zu werden. Dann kamen die Spiele gegen Brügge - und ich hielt unmögliche Dinger, bei denen ich selbst nicht wusste, wie es mir gelang. So kam es, dass Gladbach für einen zu kleinen und zu alten Torwart ein Angebot abgab. Daraus entstand eine romantische Geschichte. Die Zeit mit Hans Meyer war Hammer-mäßig.

SPOX: Einer Ihrer damaligen Mitspieler war der heutige Sportdirektor Max Eberl, der Sie nach Ihrem Rücktritt für eineinhalb Jahre als Dolmetscher für die Spanisch-sprechenden Spieler nach Mönchengladbach zurückholte. Hätten Sie Eberls Entwicklung hin zu einem der Top-Manager der Liga erwartet?

Stiel: Erwartet habe ich es schon - nur es wird nach wie vor nicht genügend gewürdigt. Ich kenne keinen Sportdirektor, der so konzipiert und strukturiert arbeitet wie Max. Wenn ich andere Manager sehe, müsste ich ihnen sagen: "Leute, schaut euch Max an! Ihr habt einen geilen Job, Ihr macht nur viel zu wenig aus den Möglichkeiten!" Fast jeder andere Verein hätte Reus, Herrmann, Jantschke, Dante, Hanke, Nordtveit, Stranzl, Brouwers oder Neustädter haben können - und nur Max hatte die Vision, dass aus diesen Spielern etwas Besonderes entstehen kann.

SPOX: Zu Eberls Vision gehörte es, den damals 17-jährigen Torwart Marc-Andre ter Stegen einen Profi-Vertrag zu geben. Jetzt ist ter Stegen 19 Jahre alt, Gladbachs Nummer eins und beim FC Barcelona im Gespräch.

Stiel: Vor zwei Jahren riet mir Gladbachs Torwarttrainer Uwe Kamps dazu, mir einen Buben anzuschauen, der sehr zurückhaltend wäre, aber den der Verein als zukünftigen Stammtorwart im Blick hätte. Als ich mit Marc ins Gespräch kam, wusste ich sofort, dass er durchstarten wird. Er ist so klar in der Birne, dass ich nicht glauben konnte, dass er erst 17 war.

SPOX: Wie gut ist ter Stegen?

Stiel: Ich sage voraus: In spätestens zwei Jahren muss sich Manuel Neuer ganz warm anziehen. Die WM 2014 kommt womöglich zu früh, danach wird Marc sicher die neue deutsche Nummer eins. Das schwöre ich. Sein Potenzial ist unglaublich.

SPOX: Was ist mit Tim Wiese?

Stiel: Marc steckt Wiese in die Tasche.

SPOX: Bernd Leno, Ron-Robert Zieler, Oliver Baumann, Kevin Trapp, Sven Ulreich?

Stiel: Zieler, Baumann, Trapp und Ulreich kommen schon alleine wegen des Alters nicht an Marc heran. Sie sind alle gute Torhüter, trotzdem hat Marc mit 19 Jahren eine viel größere Entwicklungsmöglichkeit vor sich. Bernd Leno ist der gleiche Jahrgang und ebenfalls ein klasse Keeper, bei ihm vermisse ich jedoch wie bei Neuer die Ausstrahlung von Marc. Er bringt für einen 19-Jährigen eine brutale Ausstrahlung mit.

SPOX: Sehen Sie kein Defizit bei ter Stegen? Vielleicht die Strafraumbeherrschung?

Stiel: Man sollte genau darauf achten, wie sich Marc verhält. Er ist keiner, der bei einer Flanke wie von einer Tarantel gestochen los sprintet, laut "Boooaaahhh" brüllt und den gegnerischen Stürmer weghaut. Er macht es viel dezenter. Wenn der Gegner seinen Angriff aufbaut, läuft Marc bereits mit und steht dank seiner Antizipation schon dort, wo die Flanke am Ende landet. Es ist weniger spektakulär, dafür umso wirkungsvoller.

SPOX: Es klingt bei Ihnen, als ob ter Stegen auf dem Weg zum weltbesten Torwart wäre.

Stiel: Warum nicht? Die Bundesliga ist ohnehin die Liga mit der größten Dichte an guten Keepern. Und wenn ter Stegen in absehbarer Zeit Neuer ablöst, wäre er logischerweise einer der wenn nicht der weltweit beste Keeper. Marc werden in der Zukunft auch Fehler unterlaufen, das ist nicht das Thema. Das ändert dennoch nichts an den Fakten: Er bringt die nötige Bulligkeit mit, gleichzeitig ist er beweglich und kann mit dem Ball am Fuß überragend umgehen. Ich kenne keinen Besseren als Marc-Andre ter Stegen.

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