Michael Oenning: Der Mann ohne Eigenschaften

Von Stefan Moser
Michael Oenning trat beim Hamburger SV im März die Nachfolge von Armin Veh als Cheftrainer an
© Imago

Unnahbar und schwer zu greifen: Die Angst vor Schubladen bringt Michael Oenning um sein fachliches Profil als Trainer. Allerdings: Der Hamburger SV bezahlt ihn auch nicht als Imageträger. Er muss punkten. Gerade im Nordderby.

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"Ich weiß jetzt schon ganz genau, was die Spieler sagen werden, wenn ich weg bin", orakelte der damalige HSV-Trainer Amin Veh Anfang des Jahres in der ihm eigenen sarkastischen Distanz zur Branche: "Sie werden sagen: Beim neuen Trainer ist die Ansprache viel besser und wir arbeiten jetzt mehr im taktischen Bereich."

Kurz darauf wurde er tatsächlich entlassen und sein Co-Trainer Michael Oenning übernahm. Sechs Monate ist das nun her - doch Vehs Prophezeiung hat sich noch immer nicht erfüllt.

Kein HSV-Profi lobte seither explizit die Motivationskünste seines Nachfolgers oder staunte über dessen strategische Feinarbeit.

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Überhaupt wird in Hamburg wenig über das fachliche Portfolio von Michael Oenning gesprochen. Als Fußballlehrer wirkt der 45-Jährige merkwürdig konturlos. Der eigentliche Hoffnungsträger und Architekt des großen Umbruchs ist stattdessen Sportchef Frank Arnesen.

Oenning als stiller Verwalter?

Mit spektakulären Aktionen wie der Verpflichtung der halben Chelsea-Jugend sorgt der Däne für die Schlagzeilen. Mit dem Charme des gewitzten Akzentsprechers kommentiert er sehr präsent das Tagesgeschehen.

Dagegen wirkt Oenning fast ein wenig farblos, schwer zu greifen, eher wie ein stiller Verwalter seines Sportdirektors. In den Schlagzeilen wird mehr über ihn als von ihm gesprochen.

So auch vor dem 95. Nordderby am Samstag in Bremen (18.15 Uhr im LIVE-TICKER und bei Sky).

"Werder bestimmt über Oennings Schicksal" und "Schießt Bremen Oenning ab?", titelt der Boulevard und rechnet dem HSV-Trainer seine schlechte Bilanz vor: schwächster Saisonstart seit Kurt Jara, nur vier Siege in 29 Bundesligaspielen mit Nürnberg und Hamburg, aktuell seit fast einem halben Jahr ohne einen Dreier.

Kein Profil in der Öffentlichkeit

Eine inhaltliche Auseinandersetzung aber bleibt außen vor. Als Trainer hat Michael Oenning im Augenblick kaum ein Profil in der Öffentlichkeit.

Es bleiben nur vage Eindrücke: Ein hormonstrotzender Einpeitscher scheint er nicht zu sein. Im Training wirkt er eher kumpelhaft gediegen, vor der Presse spricht er wenig und langsam und immer mit abgewandtem Blick.

Exaltierter Taktikprofessor trifft es wohl auch nicht. Die verschiedenen erprobten Spielsysteme nennt er alle schlicht Vier-Drei-Drei: "Ob das im Detail nun Vier-Eins-Vier-Eins oder Vier-Vier-Zwo ist, darüber sollen sich klügere Köpfe Gedanken machen."

In Zeiten, in denen eine Zahlenreihe wie 4-2-3-1 bald ähnliche Reaktionen in den Gehirnen einschlägiger Männerrunden hervorruft wie früher nur 90-60-90, ist das zumindest keine offene Anbiederung an seine Kritiker, die noch immer eine wiedererkennbare Spielidee vermissen.

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Denn unterscheiden könnte er die Systeme in Wirklichkeit sehr wohl. Immerhin war er als ausgebildeter Fußballlehrer Jahre lang beim DFB angestellt. Als TV-Experte hinter den Kulissen und Begleiter von Kommentator Marcel Reif hat er vermutlich mehr internationale Topspiele im Stadion analysiert als die meisten seiner Kollegen. Oenning doziert offenbar nur äußerst ungern.

Zwischen Marcel Reif und Chopin

Viele Beobachter interpretieren sein einsilbiges Understatement als Überheblichkeit. Einige glauben aber auch, dass der HSV-Trainer - wie der gesamte Verein - nur einfach dabei ist, sich selbst neu zu erfinden.

Weil er Chopin nicht für einen französischen Mittelstürmer hält, sondern seine Etüden sogar auf dem Klavier spielen kann, galt Oenning in seinen Anfangszeiten in der Bundesliga als schöngeistiger Quereinsteiger.

"Ich wehre mich nicht dagegen, wenn die Leute mich für intellektuell halten", sagte er damals. Er war als junger Mann nie Profifußballer, dafür aber Kandidat in der Fernsehshow "Herzblatt". Neben Sport hat er Germanistik studiert und zusammen mit Reif 2002 den Grimme-Preis gewonnen. Klarer Fall: Ein Sonderling. Zumindest unter Fußballtrainern.

Oennings Empfehlung: Umbruch in Nürnberg

Diese Wahrnehmung wurde er auch nicht los, als er sich in Nürnberg die ersten sportlichen Abzeichen verdiente. Auch dort beerbte er als Co-Trainer seinen entlassenen Chef Thomas von Heesen und schaffte 2009 den Aufstieg.

Damit war er nun auch ein junger, moderner Trainer, der beim Club einen Umbruch bewerkstelligte und dabei Talente wie Ilkay Gündogan und Dennis Diekmeier entdeckte und förderte.

Ein Etikett, das ihm bei den Gesprächen in Hamburg sicher half, als Arnesen ursprünglich einen neuen Trainer verpflichten wollte, sich aber dann von Oenning überzeugen ließ. Das Bild des intellektuellen Outlaws aber wurde ihm mit der Zeit medial zu dominant.

In einem Interview mit "11Freunde" ärgerte er sich schon vor zwei Jahren darüber, dass er sich bei einem Talkshow-Auftritt zu einer spontanen Einlage am Flügel überreden ließ: "Ich wusste sofort, dass das nicht besonders clever ist. Es wurden auch gleich überall Bilder des klavierspielenden Trainers gedruckt. Und schon steckt man in einer Schublade.

Die Konturen verwischen

Mittlerweile aber scheint diese Schublade tatsächlich langsam zuzugehen. Selbst von seinen optischen Erkennungszeichen hat Oenning sich getrennt. Die langen Haare und das - zugegeben modisch eher riskante - Kinnspaltenbärtchen sind seit einigen Wochen verschwunden.

Doch im Bemühen, keine neue Schublade aufzumachen, verwischen eben auch die Konturen. Oenning entzieht sich dem schematisierenden öffentlichen Blick. Er wird durchsichtig und bietet kaum Projektionsfläche für die an ihn gerichteten Erwartungen.

Allerdings: Im Kern muss Oenning auch gar nicht das Bild eines "Schleifers", "Motivators" oder "Taktikmissionars" verkörpern. Der HSV bezahlt ihn nicht als Litfaßsäule für etwaige Trainer-Images.

Fans halten zu Oenning

Er muss vielmehr festgefahrene Strukturen auflösen, Blockaden überwinden, Details automatisieren und aus einem talentierten, jungen Kader eine neue Mannschaft formen, die Punkte holt. Und ob er dazu in der Lage ist, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilen.

Eine Einschätzung, die auch die Mehrzahl der Fans teilt. Anders als die großen Hamburger Medien geben sie, wenn auch vielleicht nicht Oenning persönlich, so aber doch dem Prozess, an dem er entscheidend mitwirkt, noch Zeit. Sie wissen, dass ein Trainerwechsel den Umbruch womöglich nur weiter verzögern würde.

Ein Faustpfand, dessen Oenning sich durchaus bewusst ist. Vor dem Nordderby formuliert er ungewöhnlich deutlich - gerade auch die emotionale Tragweite der Partie: "Ich weiß, was dieses Spiel für unsere Fans bedeutet. Von allen Gegnern in der Bundesliga ist es gegen Bremen am wichtigsten zu punkten. Mit diesem Spiel können wir viel gewinnen."

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