Was vom Talent übrig blieb

Von Stefan Moser
Marcell Jansen (l.) und Dennis Aogo spielen in der Nationalmannschaft keine Rolle mehr
© Getty

Das Lied vom "Potenzial abrufen" war jahrelang ein Gassenhauer beim Hamburger SV. Heute jedoch lautet der Text: Welches Potenzial? Die einst so hoffnungsvollen Spieler sind gescheitert oder haben den Anschluss an die Gegenwart verloren. Die Stagnation lässt sich an Zahlen messen.

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"Wir haben zum Beispiel mit Marcell Jansen, Dennis Aogo und Heiko Westermann sehr gute und sehr erfahrene Spieler in unseren Reihen. Ich erwarte jetzt von jedem einzelnen Spieler, dass er alles bringt, was möglich ist."

So geht das alte Hamburger Lied. Diesmal in der argentinischen Interpretation von Rodolfo Esteban Cardoso, der den HSV am Freitagabend in Stuttgart (20.15 Uhr im LIVE-TICKER und bei Sky) als Interimscoach betreut.

Der 42-Jährige ist bereits der achte Trainer in vier Jahren, der den Gassenhauer vom "Potenzial abrufen" singt. Jahrelang galt der HSV als Ensemble von Hochbegabten, dem nur etwas Konstanz und Siegermentalität fehlen.

Der im Frühjahr geschasste Vorstandschef Bernd Hoffmann war geradezu besessen von der Suche nach den letzten "drei bis fünf Prozentpunkten", die seine Angestellten von einem Spitzenteam trennten.

Gescheitert oder stagniert

Mittlerweile trennen Hamburg vier Punkte von einem Nichtabstiegsplatz. Und die Außensicht auf den Kader hat sich radikal verändert. Die Frage ist nicht mehr, wie man das aus den Spielern herausholt, was möglich ist. Die Frage lautet vielmehr: Was ist im Augenblick überhaupt möglich?

Die meisten der einst so hoffnungsvollen Talente wurden mittlerweile als hoffnungslose Fälle wieder weggeschickt. Eljero Elia, Piotr Trochowski, Maxim Choupo-Moting, Thiago Neves, Tunay Torun, Änis Ben-Hatira, Guy Demel: Einige der Spieler wurden regelrecht verschenkt, nur um ihnen nicht länger beim Scheitern zusehen zu müssen.

Andere sind geblieben. Und sind stagniert. Ungünstige gruppendynamische Konstellationen, hoher Erwartungsdruck, persönliche Befindlichkeiten, aber auch die extrem unterschiedlichen Trainertypen in extrem kurzer Zeit haben aus unfertigen Talenten fertige Sitzenbleiber gemacht.

Spieler haben den Anschluss verpasst

Gerade die von Cardoso angesprochenen Jansen, Aogo und Westermann symbolisieren die fehlende Entwicklung. Alle drei waren mal Nationalspieler, alle drei wurden längst von anderen Spielern auf ihren Positionen überholt.

Irgendwo in den letzten Jahren, in denen sich der Bundesligafußball, angetrieben durch die Nationalmannschaft und Protagonisten wie Jürgen Klopp, Ralf Rangnick, Lucien Favre, Thomas Tuchel, Mirko Slomka oder Holger Stanislawski, so rasant entwickelt hat, ist Hamburg auf der Strecke geblieben. Der Kader hat den Anschluss verpasst.

Und so sind die taktischen Defizite, die man zuletzt mit Michael Oennings fehlender Spielidee erklärte, zum Teil auch einfach auf individuelle Schwächen zurückzuführen.

Die Stürmer können nicht richtig gegen den Ball arbeiten, die Mittelfeldspieler schalten zu langsam um, die Außenverteidiger bieten die Innenbahn an, in Defensivzweikämpfen werden viel zu viele gegnerische Standards in Tornähe verursacht, etc. Von der fehlenden Konzentration und Aggressivität bei ruhenden Bällen ganz zu schweigen.

Zu wenig Intensität, zu wenig Laufbereitschaft

Vor allem aber fehlt beinah der gesamten Mannschaft die Intensität, mit der in Deutschland mittlerweile fast überall Fußball gespielt wird. Was den Fans als mangelnder Kampgeist aufstößt, lässt sich dabei tatsächlich auch an den Statistiken ablesen: In allen sechs Spielen dieser Saison waren die Hamburger dem Gegner in der Laufleistung unterlegen.

Gegen Dortmund etwa liefen die Spieler im Schnitt einen ganzen Kilometer weniger. Die Bayern brachten satte 60 Sprints mehr auf die Uhr als der HSV. Zwar kommentierte Oenning diese Zahlen süffisant mit dem Hinweis, die reine Laufstrecke habe keine Aussagekraft, entscheidend sei die Qualität der zurückgelegten Wege. Zumindest in seinem Fall aber geht das Argument schon mit Blick auf die bloßen Ergebnisse ins Leere. 1:3 bzw. 0:5 - die Dortmunder und Münchner wussten offenbar sehr wohl, wohin sie laufen sollten.

Favre und Slomka als Beispiel

Die Spieler fußballerisch und läuferisch im Jahr 2011 ankommen zu lassen, wird nun die vorrangige Aufgabe des neuen HSV-Trainers werden.Dass die Operation grundsätzlich auch während einer laufenden Saison möglich ist, haben nicht zuletzt Lucien Favre (Gladbach) und Mirko Slomka (Hannover) mit ihren Mannschaften gezeigt.

Innerhalb der nächsten zehn Tage will Hamburg den nächsten Coach präsentieren.

Interimsmann Cardoso bleibt bis dahin nicht viel mehr übrig, als die alten Gassenhauer zum Besten zu geben.

"Wir müssen wieder an uns glauben, brauchen Leben in der Mannschaft und die Überzeugung, dass wir Spiele gewinnen können. Die Spieler sind jetzt mehr denn je gefordert." Undsoweiter. Undsofort.

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