HSV: Die drei Fragezeichen

Von Stefan Moser
Piotr Trochowski (M.) erzielte in 35 Länderspielen für Deutschland zwei Treffer
© Getty

Vor dem Nordderby gegen Werder Bremen sucht der Hamburger SV noch immer nach der Optimalbesetzung im zentralen Mittelfeld. Piotr Trochowski erklärt die taktische Evolution auf seiner Position: Die Zeiten des klassischen Spielmachers sind vorbei.

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Die Frage brannte auf den Nägeln. Einem Zuschauer ganz besonders. Also flitzte er in der Nachspielzeit aufs Spielfeld, rannte zu Heiko Westermann in den Mittelkreis und hob fassungslos die Arme: Wie kann der HSV nur dieses Spiel gegen Wolfsburg verlieren? Westermann hatte auch keine Antwort.

70 Prozent Ballbesitz, 67 Prozent gewonnene Zweikämpfe, 15:1 Ecken, 18:8 Torschüsse und unglaubliche 51:7 Flanken. Alle statistischen Werte wiesen Hamburg als klaren Sieger aus, nur das Ergebnis sprach für die Gäste.

Nachdem sich der HSV nach zuletzt zwei drögen Unentschieden gegen Nürnberg und St. Pauli das Etikett "Beamtenfußball" eingehandelt hatte, präsentierte sich die Mannschaft von Trainer Armin Veh gegen Wolfsburg mit viel Spielfreude und noch mehr Herz.

"Beste erste Hälfte der bisherigen Saison"

Nur war die "beste erste Hälfte der bisherigen Saison" (Veh) am Ende umsonst: Westermann scheiterte am Pfosten, Mladen Petric am Torhüter und Jonathan Pitroipa wie so oft an Jonathan Pitroipa. Und so verlor der HSV erst die Geduld, dann die Ordnung, schließlich Kraft und Konzentration - und am Ende, nach zwei gandenlosen Kontern, eben auch das Spiel. Die erste Saisonniederlage.

Mit acht Punkten aus fünf Partien liegt Hamburg nun auf Platz sechs, vor den vermeintlichen Konkurrenten aus Wolfsburg, Stuttgart, Leverkusen, Schalke oder Bremen, die den schwierigen WM-Sommer allesamt noch schlechter verkraftet haben. Dank zweier Siege gleich zum Auftakt liegt der HSV im Moment sogar noch vor den Bayern - und trotzdem ist ein Teil der Anhänger bis auf Weiteres mit Mannschaft und Trainer wieder per Sie.

Dass vor allem die Außenverteidiger immer wieder mit den Händen in den Hosentaschen verteidigen, nimmt man in Hamburg mittlerweile dabei fast schon routiniert zur Kenntnis; auch Vehs Suche nach der richtigen Balance "zwischen Disziplin und Leidenschaft" hat noch Kredit. Die Skepsis richtet sich vielmehr gegen das Spielsystem.

Hamburg sucht den Zehner

Der Trainer hat sich auf ein 4-2-3-1 festgelegt. Ruud van Nistelrooy ist als einzige Spitze gesetzt, auf der Position direkt dahinter stehen bislang aber nur drei Fragezeichen. Paolo Guerrero, Piotr Trochowski und Petric haben sich abwechselnd als Zehner versucht, alle drei mehr oder weniger erfolglos.

"Wir haben für diesen Bereich zwar sehr gute Spieler, aber sicher noch keine feste Ordnung", sagt Trochowski, der gegen Wolfsburg erst in der 75. Minute eingewechselt wurde, im Gespräch mit SPOX.

Er selbst sei, laut Veh, "prädestiniert für die Rolle", habe aber noch taktische Defizite. Trochowski komme zu sehr aus der Tiefe, der Abstand zwischen ihm und van Nistelrooy sei mithin zu groß.

MySPOX-Analyse: HSV vor Bremen

Müller und Özil setzen Maßstäbe

Im 4-2-3-1-System, für das in Deutschland zuletzt Louis van Gaal, Thomas Schaaf und Joachim Löw die Maßstäbe setzten, ist der zentrale Mittelfeldspieler kein klassischer Spielmacher mehr. Die Prototypen wie Thomas Müller und Mesut Özil sind eher hängende Stürmer, die entweder "zwischen den Linien" als Anspielstation für Tempo und Überraschung sorgen oder in plötzlichen Rhythmuswechseln selbst den Weg in den Strafraum suchen.

"Das komplette Spiel ist heute viel dynamischer und enger als früher, die Mannschaften verteidigen viel höher und lassen kaum Räume im Mittelfeld", beschreibt Trochowski die Entwicklung: "Die Position des Spielmachers gibt es also im Grunde nicht mehr, die Zeiten sind vorbei. Nun übernehmen meistens die Sechser die Aufgaben des früheren Zehners, sie lenken von hinten das Spiel, diktieren das Tempo und sind für die Gestaltung verantwortlich."

Tatsächlich hatten Hamburgs Sechser Ze Roberto und David Jarolim gegen Wolfsburg 95 bzw. 75 Ballkontakte. Petric, der die "10" auch auf dem Trikot trug, dagegen nur 35. Der Wert ist nicht ungewöhnlich, auch Müller bei den Bayern oder Özil in der Nationalmannschaft haben in der Regel nur halb so viele Ballberührungen wie Bastian Schweinsteiger.

Trochowski: "Wir haben viele Optionen"

Entscheidend ist nicht die Zahl der Ballkontakte sondern deren Qualität, das Spiel effektiv in die gefährliche Zone zu tragen. Und daran hakt es noch beim HSV. Trochowski schleppt häufig die Bälle und hatte gegen Nürnberg (sein bislang einziger Auftritt in der Startelf) mit sich selbst und einem klassischen Manndecker zu kämpfen. Guerrero fehlen Selbstvertrauen und Präsenz, um den Rhythmus anzuziehen. Und Petric klebte am Mittwoch zu sehr im Zentrum und spielte häufig mit dem Rücken zum Tor.

Trochowski bleibt trotzdem optimistisch: "Ich sehe das nicht als unsre Problemzone. Wir haben noch nicht die richtige Ordnung, aber drei sehr gute Spieler auf dieser Position. Man kann es auch positiv sehen: Wir haben viele Optionen."

Im Nordderby am Samstag gegen Bremen geht Vehs Suche nach der richtigen Option in die nächste Runde. Das zuletzt dramaturgisch aufgeladene Prestigeduell gilt nicht nur atmosphärisch als richtungweisend - freilich auch für Werder.

Es kriselt bei Werder

Der Nordrivale ist noch deutlich schlechter aus der Sommerpause gekommen als der HSV. So schlecht sogar, dass Trainer Schaaf und Manager Klaus Allofs ihr altes "Good Cop, Bad Cop"-Spiel plötzlich aufgegeben haben und nun beide, im Verbund mit Kapitän Torsten Frings, die Mannschaft öffentlich für ihre Berufsauffassung kritisieren.

Neben den Verletzungen der Schlüsselspieler Naldo, Per Mertesacker und Claudio Pizarro plagten Bremen dazu durchaus einige vergleichbare Probleme: Zerstückelte Vorbereitung, taktische Schwächen der Außenverteidiger und - nach Özils Wechsel nach Madrid - ein Loch im zentralen Mittelfeld. Immerhin kehren Mertesacker und Pizarro im Derby ins Team zurück.

Auch Schaaf hat mit Aaron Hunt, Marko Marin und mit Abstrichen auch Wesley schon drei Spieler im Zentrum ausprobiert - und noch keine passende Lösung gefunden.

Anders als Veh bastelt Schaaf auch immer wieder am System und wechselt zwischen Varianten mit einem oder zwei Stürmern. Paradox genug: In Deutschlands größter Brutstätte für Zehner gibt es derzeit einen erheblichen Mangel auf der Spielmacher-Position.

Vielleicht ja ein Trostpflaster für die unruhigen HSV-Flitzer.

Hamburger SV im Steckbrief