HSV: Brachland bleibt Brachland

Von Stefan Moser
Der Hamburger SV hat ein Nachwuchsproblem, für das vorerst keine Lösung in Sicht zu sein scheint
© Imago

Urs Siegenthalers überraschender Rücktritt ist für den Hamburger SV viel mehr als nur eine PR-Blamage. Denn hinter seiner Rolle als Scout und Nachwuchsleiter verbargen sich in Wahrheit tiefgreifende Reformen - denen nun ein glaubwürdiger Träger fehlt. Die sieben wichtigsten Fragen und Antworten zum geplatzten Engagement beim HSV.

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1. Was ist passiert?

Absurd, aber wahr: Noch vor seinem offiziellen Amtsantritt ist Hamburgs vermeintlicher "Projektleiter Zukunft" zurückgetreten. DFB-Scout Urs Siegenthaler sollte ab dem 1. August  als Scouting- und Nachwuchs-Chef des HSV tiefgreifende strukturelle Reformen im gesamten Verein einleiten. Doch obwohl das Engagement seit Februar feststeht, legte der DFB, auch auf Betreiben der Liga, nur wenige Tage vor dem eigentlichen Start sein Veto ein. Generalsekretär Wolfgang Niersbach erklärte, dass eine "Doppelfunktion" in Verein und Verband per "Grundsatzentscheidung" nicht zulässig sei und zwang Siegenthaler zu einer Wahl. Der Schweizer entschied sich für eine weitere Zusammenarbeit mit Bundestrainer Joachim Löw - und hinterlässt damit eine klaffende Lücke im Kompetenzteam der Hamburger.

2. Was bedeutet Siegenthalers Ausscheiden für den HSV?

Seit der Verpflichtung von Bastian Reinhardt als HSV-Sportchef hieß das Kerngeschäft Siegenthalers in der offiziellen Sprachregelung: "Scouting und Nachwuchs". Klingt nicht besonders glamourös, ist in den Vorstellungen des Vorstandsvorsitzenden Bernd Hoffmann aber eines der strukturell wichtigsten Aufgabenfelder des zukünftigen HSV. Der Bereich "Sichtung und Ausbildung junger Talente" ist für die meisten Vereine mittlerweile sowohl sportlich als auch wirtschaftlich ein elementarer Eckpfeiler - in Hamburg ist er in den Augen des Klubchefs allerdings noch Brachland.

Während die Bayern etwa Müller und Badstuber zur WM schickten und Stuttgart in drei Jahren 50 Millionen Euro durch den Verkauf der Eigengewächse Gentner, Beck, Gomez und Khedira verdiente, sah der durchschnittliche Lebenslauf eines HSV-Talents überspitzt formuliert so aus: Mit 18 verpflichtet, mit 20 verliehen, mit 22 billig an die Konkurrenz verscherbelt. Von Charles Takyi über Alex Meier bis zu "Jahrhunderttalent"  Macauley Chrisantus: Keiner schaffte beim HSV den Durchbruch, sie verließen den Verein ebenso unverrichteter Dinge wieder wie ihre Kollegen Miso Brecko, Mustafa Kucukovic oder Besart Berisha. Änis Ben-Hatira und Maxim Choupo-Moting werden ihnen wohl demnächst folgen.

Und obwohl der frühere Sportdirektor Holger Hieronymus 1999 in Ochsenzoll das damals modernste Nachwuchszentrum Deutschlands feierlich von Franz Beckenbauer eröffnen ließ, scheitern auch Hamburgs Eigengewächse regelmäßig am Übergang von der U 23 zu den Profis. Rouwen Hennings, Alexander Laas oder Eren Sen: Alle in Hamburg zu Junioren-Nationalspielern ausgebildet - inzwischen in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Taktische Formationen, Positionskämpfe beim HSV 2010/2011

Hoffmanns Unzufriedenheit mit dem Ertrag der Scouting- und Nachwuchsabteilungen war schließlich auch einer der Hauptgründe, weshalb Sportchef Dietmar Beiersdorfer vor einem Jahr Hamburg verließ - und der erst kurz zuvor installierte Jugendkoordinator Jens Todt gleich mit.

Nun sollte Siegenthaler also den Bereich neu aufbauen. Und er ging die Umstrukturierung durchaus beherzt an: Sämtliche Jungendtrainer sollten ab dem 1. August nur noch "auf Bewährung" arbeiten: Ein halbes Jahr wurde ihnen gewährt, um den neuen Chef zu überzeugen. Außerdem erwartete der Schweizer von seinen zukünftigen Angestellten die Weiterbildung zum Fußballehrer: Die meisten (auch U-23-Trainer Rodolfo Cardoso und Richard Golz) haben bislang nur eine A-Lizenz.

Hoffmann und Reinhardt betonen zwar, sie werden die Ideen und den Reformgeist Siegenthalers nun eben selbst in seinem Sinne weitertragen; und mit Paul Meier (Ausbildung) und Christopher Clemens (Scouting) stehen ihnen auch zwei ehemalige Mitarbeiter des 62-Jährigen als eine Art Kompensation zur Verfügung. Doch alle vier werden die Persönlichkeit und Autorität von Siegenthaler nicht ersetzen können. Mit ihrem renommierten Schirmherren verliert die ganze Operation unweigerlich an Strahlkraft.

3. Was bedeutet der Rücktritt für Bernd Hoffmann?

Vordergründig beutet der plötzliche Rücktritt für Hoffmann auch den Höhepunkt einer ausgedehnten PR-Blamage. Die unendliche Suche nach einem Sportchef, das Kompetenz-Gerangel mit dem Aufsichtsrat sowie die indiskrete "Informationspolitik" einiger Kontrolleure erinnerten fast ein wenig an das Schalke früherer Tage und verursachten über Monate hinweg einen nicht unerheblichen Imageschaden. Mit Siegenthaler schien nun endlich eine Premium-Lösung gefunden - nicht ohne politische Querelen, aber immerhin.

Die unerwartete Absage zur Unzeit nun passt freilich ins Bild. Hoffmann und sein sportlicher Leiter: Was dabei schief gehen kann, das geht auch schief. Fast schon etwas mitleidig nahmen die meisten Medien und Fanforen den HSV-Boss nun in Schutz, der schwarze Peter landet abwechselnd bei den bösen Buben von der DFL oder den wankelmütigen Schlafmützen des DFB.

Dieses Mal ist Hoffmann also nicht der Prügelknabe - der Verlust dürfte aber auch so schmerzhaft genug sein. Denn der 47-Jährige braucht zur Umsetzung seiner ehrgeizigen Ideen eine sportlich unumstrittene Autorität als Partner in der Führungsebene des HSV. Und immerhin verbarg sich hinter Siegenthalers vermeintlich profaner Jobbeschreibung als Nachwuchsleiter  die durchaus tiefgreifende Vision einer grundlegenden Richtlinien-Kompetenz: eine verbindliche Fußballphilosophie für den ganzen Verein - unabhängig von den handelnden Personen.

Am Übergang zu den Profis scheiterte der Nachwuchs nämlich auch deshalb regelmäßig, weil ständig wechselende Cheftrainer und deren ebenso rasant wechselnde Vorlieben und Konzepte den HSV im Jahresrhythmus teilweise radikal umkrempelten. Fehlende Konstanz wurde zum Markenzeichen der Hamburger - für die Entwicklung junger Spieler doppelt problematisch.

Also sollte Siegenthaler ein unabhängiges Konzept entwickeln und vertreten. Der Trainer sollte sich ab sofort der generellen Spielidee anpassen, nicht  umgekehrt. "Siegenthaler wird dem Verein seinen sportlichen Stempel aufdrücken. Wir möchten eine HSV-Philosophie, die einzelne Trainer überdauert. Die soll er vorgeben", sagte Hoffmann noch im Frühjahr. Die Vorbilder aus Amsterdam und Barcelona musste er dabei erst gar nicht explizit benennen.

Doch auch diesem ambitionierten Projekt droht nun das Scheitern. Denn  die Vermittlung einer übergreifenden Spielphilosophie, an die sich schließlich auch der Cheftrainer halten soll, benötigt einen starken und glaubwürdigen Träger. Hoffmann selbst ist dafür viel zu wenig Fußballer - Sportchef Reinhardt viel zu sehr.

Teil 2: Was ändert sich? Was hat es mit der "Doppelfunktion" auf sich? Wer ist schuld?