"Programmiert wie ein ferngesteuertes Auto"

Von Interview: Benny Semmler
Heiko Herrlich hospitierte 2008 beim FC Barcelona. Seit Oktober 2009 ist er VfL-Trainer
© Getty

Heiko Herrlich hat im vergangenen Oktober das Traineramt beim VfL Bochum übernommen. Unter seiner Leitung legte der VfL einen gelungenen Rückrundenstart hin. Erstmals seit langem herrscht wieder Aufbruchstimmung in Bochum. Im Interview mit SPOX spricht der 38-Jährige über seine Hospitanz beim FC Barcelona, seine Ziele mit dem VfL Bochum und Respekt und Disziplin in der Kabine.

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SPOX: Herr Herrlich, haben Sie eigentlich noch Kontakt zum FC Barcelona?

Heiko Herrlich: Nein. Aber wir werden in absehbarer Zeit einige Jugendtrainer vom VfL nach Barcelona schicken.

SPOX: Eine vielleicht freche Frage: Sie haben beim amtierenden Champions-League-Sieger hospitiert. Wie viel Barcelona steckt nun im VfL Bochum?

Herrlich: Wir können vom spanischen Fußball viel lernen. Denn mit der Nationalmannschaft und dem FC Barcelona bietet Spanien momentan das Beste, was es im Fußball gibt. Weltweit. Da lohnt sich ein längeres Hinsehen.

SPOX: Sie haben es getan und sind offenbar fasziniert.

Herrlich: Auf jeden Fall. Die Ballsicherheit, die Passsicherheit, diese kleinen Spieler wie Xavi, Iniesta, Messi - sie zeigen uns, wie technischer Fußball auf höchstem Niveau auszusehen hat. Mich beeindruckt die Spielphilosophie mit möglichst wenigen Ballkontakten. Sie zermürben die Gegner mit ihrer Dominanz. Der englische Fußball tickt da ganz anders.

SPOX: Wo sehen Sie den Unterschied?

Herrlich: In der Premier League wird sehr schnell tief gespielt. Das heißt: Nach Balleroberung wird sofort der Weg in die Spitze gesucht. Die Spanier warten auf die Lücke, spielen auch mal über 10, 20 Stationen den Ball hin und her. Das meine ich mit "zermürben". Und ist die Lücke da, wird zugestochen. Ich finde das fantastisch.

SPOX: Vor einigen Wochen sagten sie mal: "Wir wollen schneller spielen als bisher, und die Spieler zwingen, sich nach der Ballannahme schneller vom Ball zu trennen". Klingt schon ziemlich spanisch.

Herrlich: Klingt zeitgemäß, würde ich sagen.

SPOX: Sie haben die Denkweise der Blaugrana also vollends aufgesaugt?

Herrlich: Ich habe das System Barcelona natürlich sehr genau beobachten können, war zehn Tage bei der ersten Mannschaft, damals noch unter Frank Rijkaard, konnte bei allen Trainingsformen und einem Spiel gegen Saragossa dabei sein und habe mich reichlich mit Jugendtrainern unterhalten.

SPOX: Und was haben Sie mitgenommen?

Herrlich: Es geht sehr holländisch dort zu. Es gibt immer ein 4-3-3, immer eine Sechs und zwei Zehner. Und: Die Außenstürmer halten stets ihre Linie bis zum Strafraum. Da spielt es auch keine Rolle, ob der Ball auf der anderen Seite ist. Sie halten das Spiel breit. Dieses System zieht sich durch den ganzen Verein.

SPOX: Das heißt: Auch alle Nachwuchsteams orientieren sich danach?

Herrlich: Alle. Ich habe Spiele der U 11 gesehen. Die spielten so. Da halten die kleinen Jungs ihre Positionen auf den Außenbahnen. Da spielen 13-Jährige mit nur drei Kontakten, später werden sie auf zwei Kontakte trainiert. Da sieht man auf drei verschiedenen Trainingsplätzen drei verschiedene Spiele - aber dieselben Spielzüge.

SPOX: Ist Leistung also planbar?

Herrlich: Ja. Die Spanier wollen Spieler von unten nach oben durchziehen. Die ausgebildeten Spieler sollen auch in der Spitze gewohnte Muster vorfinden. "Triangolo" sagen sie, Dreiecke schaffen, die Spieler kennen das von klein auf. Es kommt also nicht von ungefähr, dass momentan 38 Spieler aus der Barca-Jugend in den europäischen Top-Ligen spielen.

SPOX: Was halten Spanier von mehrstündigen Konditionseinheiten im Wald?

Herrlich: Das sind Klischees. Viele denken, bei Barca wird nie ohne Ball gelaufen, oder nicht gegen den Ball trainiert. Das ist Quatsch. Dieser spektakuläre Offensivapparat kann nur funktionieren, wenn die Abwehr geordnet ist. Das Verschieben, das Rausrücken, das Fallenlassen - das ist programmiert wie bei einem ferngesteuerten Auto. Dieses Verständnis für Abläufe bringt kein Spieler mit. Das ist trainiert.

SPOX: Sprechen wir über den VfL Bochum. Ihre Mannschaft holte zuletzt 12 Punkte aus sechs Spielen. Wie haben Sie das hinbekommen?

Herrlich: Wir treten in der Abwehr deutlich konzentrierter auf, und im Angriff spielen wir ganz einfachen Fußball. Viele Dinge aus den Trainingsformen beginnen jetzt einfach zu greifen. Das freut uns. Und dass die Resultate jetzt dazukommen, ist für uns natürlich umso besser.

SPOX: Können Sie uns auch die schlechte Bilanz im eigenen Stadion erklären? Es gab erst einen Heimsieg.

Herrlich: Unter meiner Leitung war nur der Auftritt gegen Bayern München eine Enttäuschung. Bei der Niederlage gegen Freiburg wurde uns ein Tor wegen vermeintlicher Abseitsstellung geklaut. Im Spiel gegen Köln wurde ein klarer Elfmeter für uns nicht gepfiffen. Und einen Punkt gegen den Tabellenzweiten Schalke 04 werte ich als Erfolg. Aber klar ist auch: Wir müssen im eigenen Stadion mehr Punkte einfahren.

SPOX: In der Winterpause kam Milos Maric zum VfL. Ein Glücksgriff?

Herrlich: Für uns auf jeden Fall. Da Shinji Ono den Verein aus familiären Gründen im Sommer verlassen wollte, bestand schon im Sommer Kontakt zum Spieler. Jetzt sind wir froh, dass er da ist. Denn Milos ist ein positiver Typ, hat sich sofort mit allen Jungs verstanden.

SPOX: Ihr Vorgänger Marcel Koller verhinderte mehrfach den Abstieg, hatte bei den Fans aber einen schweren Stand. Die VfL-Anhänger wollen mehr, als immer "nur" den Klassenerhalt. Ist das auf absehbare Zeit realisierbar?

Herrlich: Ich finde das Anspruchsdenken der Fans vollkommen richtig. Das habe ich auch. Insofern gibt es da viele Gemeinsamkeiten.

SPOX: Wie definieren Sie Ihre Ziele in Bochum?

Herrlich: Mein Ziel ist, dass wir möglichst bald nicht mehr in Kontakt zu den Abstiegsrängen stehen und uns irgendwann im Mittelfeld etablieren. Das Spielermaterial gibt diese Ziele her. Und vor allem: Alle im Verein haben Entwicklungspotenzial. Wir können uns alle noch verbessern. Deswegen bin ich zuversichtlich.

SPOX: Nach Ihrem Karriere-Ende 2004 hatten Sie relativ schnell alle Trainerscheine in der Tasche, trainierten frühzeitig die U 17, dann die U 19, und galten beim DFB als eine Art Shootingstar. Wie viel haben Sie aus Ihrer DFB-Zeit mit nach Bochum nehmen können?

Herrlich: Sehr viel. Vor allem der Austausch unter den Trainerkollegen im DFB-Umfeld war im Nachhinein sehr wichtig. Darüber hinaus konnte ich viele Klubs besuchen und beobachten, konnte viel hospitieren. Das war eine Zeit der permanenten Weiterbildung.

SPOX: Als letzter hochangesehener DFB-Trainer wechselte Dieter Eilts in den Profifußball zu Hansa Rostock. Er scheitere kläglich. Hatten Sie das nach Ihrem missglückten Start in Bochum im Hinterkopf?

Herrlich: Grundsätzlich muss ich mal sagen: Es ist nicht so, dass man beim DFB einen Job ohne Druck hat. Dort werden Ziele definiert, die gilt es zu erreichen. Und diese will ich dann auch erreichen. Außerdem: Ich erwarte von mir immer das Beste. Kein Journalist, kein Zuschauer kann mich so unter Druck setzen, wie ich das selbst tue. Ich bin unheimlich ehrgeizig, hatte und habe immer hohe Ziele. Ich bin ein Kämpfer. Deswegen: Die Angst vor dem Scheitern ist mir fremd.

SPOX: Ihr Spieler Zlatko Dedic holte sich kürzlich nach einem Trikot-Ausziehen-Jubel die Gelbe Karte ab. Sie wechselten ihn danach sofort aus und kritisierten Dedic sogar öffentlich. Viele waren überrascht, dass Sie so streng sein können.

Herrlich: Keine Frage, mir ist Disziplin wichtig. Doch noch wichtiger ist: Die Mannschaft erwartet ebenfalls Disziplin und Respekt. Wir hatten erst vor drei Wochen eine Teambuildingmaßnahme. Wir wollten von der Mannschaft wissen, welche Teamfaktoren Erfolg bringen. Und da wurden durchweg Dinge wie Respekt und Disziplin vorgetragen. Jetzt kann man den Spielern den Spiegel vorhalten, und sagen: Schaut her, das sind eure Dinge, die ihr einfordert. Ich halte das nur ein und kontrolliere. Zlatko hat mit seiner Gelben Karte eine Unterzahlsituation riskiert. Ich habe lediglich im Sinne der Mannschaft reagiert.

SPOX: Hat Mimoun Azaouagh ein Problem mit Ihrer Art, eine Mannschaft zu führen?

Herrlich: Mimoun will unbedingt in die Mannschaft, und ist natürlich unzufrieden, wenn das nicht gelingt. Aber er hat inzwischen eingesehen, dass er aufgrund von Verletzungen nicht den Rhythmus hatte, um in der Startelf zu stehen. Aber das kann sich durch starke Leistungen sofort ändern. Das habe ich ihm auch gesagt. Wir brauchen ihn.

Heiko Herrlich im Steckbrief