Die Suche nach dem Sündenbock

Von Oliver Wittenburg
Unter Bruno Labbadia hat sich Jerome Boateng endgültig als Innenverteidiger etabliert
© Imago

Der Hamburger SV ist seine weiße Weste los. 2:3 gegen Borussia Mönchengladbach. Die erste Saisonniederlage am 11. Spieltag. Und irgendwie hat auch Bruno Labbadia seine Unschuld verloren.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

50. Minute in der Hamburger Arena: Ein Allerweltszweikampf im Niemandsland des Mittelfelds. Ein Allerweltsfoul von Jerome Boateng, bei dem sich der Hamburger Innenverteidiger weh tut.

Boateng bleibt zunächst liegen, wird dann draußen behandelt und kommt nach knapp zwei Minuten wieder. Das zuletzt leicht lädierte Knie hat wieder einen Schlag abgekommen. Eine Schmerztablette soll helfen.

Doch die Arznei versagt ihren Dienst, und Boateng ist fortan nur noch ein Schatten seiner selbst. Er humpelt stark, kann nicht mehr sprinten, kommt kaum noch zum Kopfball hoch und wirkt unsicher bei jedem Ballbesitz.

Gladbach dreht das Spiel

Als sich der 21-Jährige verletzte, führte der HSV erwartungsgemäß und auch verdient gegen Gladbach. Piotr Trochowski (13.) und Ze Roberto (47.) hatten getroffen, die defensiv eingestellten Gäste dazwischen nach einer bemerkenswert schicken Kombination durch Marco Reus (37.) ausgeglichen.

Der HSV hatte das Spiel im Griff, auch ohne zu glänzen und ohne viele Torchancen zu kreieren. Doch mit Boatengs Verletzung kippte die Partie. Gladbach wurde mutiger und setzte den Hebel immer wieder an der Achillesferse des HSV an - dem Abwehrzentrum.

Mit Erfolg: Gladbach gelang nach einer Arango-Ecke der Ausgleich durch einen Kopfball von Dante (76.), bei dem Boateng keine gute Figur machte. Sechs Minuten später versetzte der eingewechselte Rob Friend dem HSV den Knockout, als er gegen eine entblößte Hamburger Innenverteidigung aus kurzer Distanz reichlich unbedrängt einschieben durfte.

Kurz nach dem 2:3 wurde Boateng ausgewechselt und durch Tolgay Arslan ersetzt, doch das Spiel war für den HSV verloren.

"Es sind nur Schmerzen"

Direkt nach dem Abpfiff sah sich ein bedröppelt wirkender HSV-Trainer in Erklärungsnot. Warum er seinen verletzten Innenverteidiger nicht früher vom Feld genommen hätte?

"Boateng haben wir nicht ausgewechselt, weil wir keinen Verteidiger mehr auf der Bank hatten", sagte Bruno Labbadia. "Der Doc meinte, es sind nur Schmerzen. Und der Spieler hat nichts signalisiert."

Labbadia kündigte auch an, darüber mit Boateng reden zu müssen. Joris Mathijsen hielt es mit dem Trainer: "Wenn Jerome verletzt ist, dann muss er raus. Das muss der Spieler selber wissen."

Labbadia sagte auch noch mit dem Ausdruck des Bedauerns, dass man eben leider nicht in den Spieler hineinschauen könne, um festzustellen, ob er denn noch spielen könne oder nicht.

Labbadia hätte wechseln müssen

Natürlich war nicht zu erwarten, dass Labbadia frank und frei einen Riesenfehler in seinem Coaching einräumen würde; aber die Verantwortung für die entscheidende halbe Stunde der Partie an den 21-jährigen Boateng abzutreten, ist überhaupt nicht nachzuvollziehen.

Jeder Augenzeuge konnte ohne Konsultation des Teamarztes erkennen, dass Boateng schwer gehandicapt war und eine Belastung für die ganze Mannschaft darstellte.

Und selbst wenn der Spieler nicht um seine eigene Auswechslung bittet, dann muss ihn der Trainer zwingend vom Platz nehmen. Er muss. Das Argument "wir hatten keinen Verteidiger mehr auf der Bank" ist dabei vollkommen irrelevant.

Alternativen für Boateng

Der HSV-Coach hätte nach einigen Minuten, nachdem absehbar war, dass die Medikamente keine Besserung bei Boatengs Befinden brachten und sich der Spieler den Schmerz auch nicht einfach herauslief, wie das ja mitunter vorkommt, reagieren müssen.

Und er hätte Möglichkeiten gehabt. Die einfachste: Demel von außen ins Zentrum ziehen und Rincon, der diese Position beim HSV schon gespielt hat, auf rechts stellen. Alternativ: Jansen rein und auf links postieren, dafür Aogo in die Mitte. Keine Wunschlösungen sicherlich, aber zumindest besser, als einen spielunfähigen Mann bis in die Schlussphase durchzuschleppen.

Es ist nicht die Zeit und schon gar nicht die Absicht, den Stab über Bruno Labbadia zu brechen. Dafür spielt der HSV eine viel zu starke Saison - trotz Verletzungsproblemen biblischen Ausmaßes.

Schwache Gesamtleistung

Man kann die Schuld an der Niederlage getrost auf ganz viele Schultern verteilen. Fast jeder Hamburger, mit Ausnahme des gewohnt ordentlichen und zuverlässigen David Jarolim, blieb hinter seinem Leistungsoptimum zurück.

Doch der Samstagnachmittag in Hamburg war eben nicht deshalb denkwürdig, weil der Außenseiter den Favoriten bezwang, sondern wegen des kapitalen Fehlers eines Trainers.

Sicherlich darf sich auch Jerome Boateng die Frage stellen lassen, warum er nicht um seine Auswechselung gebeten hat. Hoffentlich sagt er dann nicht: "Ich wusste, dass es sinnlos ist, wir hatten keinen Verteidiger mehr auf der Bank."

Hamburg verschenkt die Tabellenführung