Tribut an die Höflichkeit

Von Bernd Schmidt
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© Getty

München - Es ist nur ein Wort. Eine stinknormale Anrede mit drei Buchstaben. Das "Sie".

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Für Lucien Favre ist es jedoch sehr viel mehr als ein Pronomen. Für ihn ist das "Sie" ein zentrales Fundament seiner Trainer-Philosophie. Ein Zeichen von Respekt und Hochachtung.

"Es ist eine Frage der Höflichkeit", sagt der Hertha-Coach, der seine Spieler daher durchgängig mit "Sie" anspricht. Ein Paradigmenwechsel nach Jahren, geprägt von jovialen Duzmaschinen wie Falko Götz oder Jürgen Röber.

"Ich finde das gut. Es hat etwas mit Respekt zu tun. Bisher haben mich alle Trainer in Berlin mit Du angesprochen und ich habe diese Form dann erwidert", sagt Pal Dardai, einer der dienstältesten Spieler in Berlin.

Tabellenführer aus dem Nichts

Hertha BSC Berlin ist nach dem 3:2-Erfolg über Borussia Dortmund überraschend Tabellenführer. Eine wirkliche Erklärung für den Höhenflug haben weder die Experten noch die Fans.

Denn vor sechs Wochen lag bei der Hertha einiges brach. Ein Team, das wegen Eifersüchteleien, Generationskonflikten und Intrigen keines mehr war. Etliche Leistungsträger, die in Berlin keine mehr sein wollten und gingen. Ein Trainer, der desillusioniert schon sein Rücktrittsgesuch einreichte.

Umso überraschender die Serie mit drei Siegen am Stück. "Die Stimmung innerhalb des Teams hat sich um 180 Grad gedreht", sagt Kapitän Arne Friedrich. Offenbar steht das Einführen des Siezens für eine gewisse Tendenz: Der Trainer zollt seinen Spielern Tribut, die Spieler zollen dem Trainer Tribut.

Beispiel Marko Pantelic: Der einstmals lauffaule Serbe präsentiert sich dieser Tage gereift, arbeitet gut nach hinten mit und verpasst keine Trainingseinheit mehr wegen diverser Wehwehchen.

Favre baute nach den Abgängen von Bastürk, van Burik und Gimenez auf Pantelic als eine der neuen Führungsfiguren - und dieser nahm die Herausforderung überraschend an.

Gegen Dortmund war er nicht nur wegen seiner zwei Tore die herausragende Kraft auf dem Platz. "Er redet viel mit den jungen Spielern", sagt Favre.

Beispiel Solomon Okoronkwo: Lange Zeit hatte der 20-Jährige nichts als Flausen im Kopf. Auf seinen Autogrammkarten unterschrieb er mit dem Zusatz "King", einmal verschlief er die Auswärtsfahrt zu Hansa Rostock.

Seit der Ankunft Favres scheint der Nigerianer im Eiltempo erwachsen geworden zu sein. Keine Rede mehr von Extravaganzen, vielmehr macht er endlich das, wofür ihn die Hertha die letzten drei Jahre ausbildete: Tore schießen, in den letzten vier Spielen immerhin dreimal.

"Ich bin so glücklich, dass ein Trainer endlich Vertrauen in mich hat", sagte er nach dem Wolfsburg-Spiel.

Grenzen der Höflichkeit

Aber nicht nur Pantelic und Okoronkwo profitieren von der neuen Fürsorge. "Favre geht auf jeden ein, hat immer ein offenes Ohr", sagt etwa Sofian Chahed.

Nur für die Medien hat der kauzige Trainer kein offenes Ohr - und gibt nur widerwillig Interviews. Auch Favres Höflichkeit hat offenbar Grenzen.

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