Keine Zeit mehr für Tabus

Von Stefan Rommel
Seit Februar 2010 gibt es die Robert-Enke-Stiftung
© imago

Nicht zuletzt der Selbstmord von Andreas Biermann hat im deutschen Profifußball die Debatten um die Krankheit Depression wieder entfacht. Was hat sich seit dem Tod von Robert Enke vor fast fünf Jahren wirklich verändert? Wo besteht noch Nachholbedarf im Kampf gegen die am schnellsten wachsende Volkskrankheit der Welt?

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Vorab: Der Suizid von Andreas Biermann brachte das Thema Depressionen wieder auf die Tagesordnung im Fußballgeschäft. SPOX widmet sich der Thematik am heutigen Montag in besonderer Form: SPOX-Redakteur Stefan Rommel hat mit Robert Enkes ehemaligem Berater Jörg Neblung sowie Mitgliedern der Robert-Enke-Stiftung gesprochen. Zudem haben wir eine Reportage des freien Journalisten Manuel Schumann, der vor dreieinhalb Jahren mit Andreas Biermann über dessen Krankheit gesprochen hat.

Ganz sicher hat dieses Thema nie nach Aufmerksamkeit gebrüllt. Es hat sich im vielmehr lange Verborgenen aufgehalten: Stets in den Köpfen der Betroffenen, nur sehr selten drangen Anzeichen dafür an die Öffentlichkeit.

Das Geschäft mit dem Fußball ist auch ein Geschäft mit dem Narzissmus. Und der verträgt sich bekanntlich schlecht mit der Erkenntnis, dass die Gladiatoren der Neuzeit verletzlich wären, zerbrechlich und angreifbar. Nicht von ihren Gegenspielern - von etwas viel Größerem, dem man mit einer gelungenen Finte nicht so eben entkommen kann.

Als sich Robert Enke das Leben nahm, versuchten die Menschen zu begreifen was das ist: Depression. Viele probierten sich an der Aufklärung, am Tabubruch. Vor der einschneidenden Tragödie um Robert Enke wagten Sebastian Deisler oder Jan Simak den Weg an die Öffentlichkeit. Ihr Rückzug wurde registriert, aber nur flüchtig diskutiert und schnell wieder vergessen.

Seit Enkes Selbstmord ist das anders. Die Erinnerungen tauchen an verschiedenen Schauplätzen auf, aber sie haben denselben Ursprung. Immer dann, wenn einer aus dem Amüsierbetrieb ausbricht, hält man kurz inne und denkt zurück.

Krankheit muss weiter enttabuisiert werden

Hannovers Torhüter Markus Miller ließ sich wegen einer mentalen Erschöpfung einige Monate behandeln. Ralf Rangnick zog sich wenige Tage später aus seinem Job als Trainer von Schalke 04 zurück, Diagnose: vegetatives Erschöpfungssyndrom. Martin Amedick, damals angestellt bei Eintracht Frankfurt, nahm sich wegen desselben Krankheitsbildes ein halbes Jahr eine Auszeit.

Vor wenigen Wochen nahm sich Andreas Biermann das Leben. Fünf Tage nach dem Glücksmoment von Rio de Janeiro wurde der deutsche Fußball an den Alltag erinnert. An diese Krankheit, die immer da sein wird. Und wie an jedem 10. November, wenn sich Robert Enkes Selbstmord jährt, stellt sich die Frage: Was ist vom Kampf um die Aufklärung geblieben?

"Die Krankheit greift weiter um sich. Deshalb müssen wir weiter enttabuisieren und ein Bewusstsein schaffen für die Krankheit. Es ist noch ein langer Weg", sagt Jörg Neblung im Gespräch mit SPOX. Der 47-Jährige war nicht nur Enkes Berater, sondern auch Freund und enger Vertrauter.

Der Maßstab bleibt gleich

Neblung sitzt im Kuratorium der "Robert-Enke-Stiftung", die wenige Wochen nach Enkes Tod vom Deutschen Fußball Bund, dem Ligaverband und Bundesligist Hannover 96 ins Leben gerufen wurde und "Projekte, Maßnahmen und Einrichtungen unterstützt, die über Herzkrankheiten von Kindern sowie Depressionskrankheiten aufklären - und deren Erforschung oder Behandlung dienen", wie die Einrichtung ihre Aufgabenfelder umschreibt.

Neblung kennt den Profifußball seit 20 Jahren. Er ist nicht so blauäugig zu denken, dass sich wegen einer aufkommenden Debatte an den Grundfesten des Geschäfts etwas ändern wird. "Die grundsätzlichen Anforderungen des Leistungssports werden sich garantiert nicht verändern. Der Maßstab wird immer das Höchstmaß an Leistungsfähigkeit sein: Man muss besser sein als der andere", sagt er.

Der Fußball mit seinen eigenen Gesetzen vom schnellen Aufstieg und schnellen Fall, vom vielen Geld, das in vergleichsweise jungen Jahren zu verdienen ist, von den Annehmlichkeiten und der Bewunderung von Millionen scheint ein geradezu idealer Nährboden für Menschen mit einer depressiven Veranlagung.

Dieser ständige Kampf

Der Druck ist immens, als Außenstehender kann man sich kaum vorstellen, wie hoch. Fehler oder schwache Leistungen führen zu schlechten Kritiken, Verletzungen gefährden den Platz im Team. Immer geht es um die Gunst des Trainers, der Fans, der Medien. Es ist dieser ständige Kampf mit den Schattenseiten des Systems, der krank machen kann.

Und dann obliegt es einzig und allen dem Betroffenen selbst, sich helfen zu lassen. Denn "wenn ein Depressiver nicht erkannt werden möchte, wird er auch Mittel und Wege finden, das zu verschleiern", sagt Neblung. Auch deshalb waren und sind die Diskussionen notwendig, sie dürfen nicht einschlafen oder in Vergessenheit geraten.

Die Offenbarungen Einzelner haben ein anderes Bewusstsein geschaffen für die Kollegen, da ist sich Stiftungsmitglied Ronald Reng sicher. "Wichtig für den betroffenen Profi ist die Erkenntnis, dass Depressionen eine vorübergehende Erscheinung sein können. Dass der Spieler geheilt werden und danach wieder eintreten kann in den Profifußball. Ich glaube, das ist ein ganz bedeutender Schritt", sagt Reng, wie Neblung ein enger Freund und überdies Autor der Biographie Robert Enkes.

Der Kampf gegen Depressionen ist der Kampf gegen eine Volkskrankheit. Die Zahl der Erkrankten in Deutschland schwankt laut Schätzungen zwischen vier und fünf Millionen, rund ein Viertel aller Fehltage deutscher Arbeitnehmer gehen auf das Konto der Stoffwechselkrankheit.

Auf Platz 2 der Volkskrankheiten

Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass das Krankheitsbild der Depression bis zum Jahr 2020 auf Platz zwei der Volkskrankheiten weltweit vorrücken wird. Derzeit soll die Zahl der Erkrankten bei 350 Millionen liegen.

Die Ursachen für Depressionen sind noch nicht klar definiert, die Behandlung auch deshalb schwierig. Im Profisport multiplizieren sich die Probleme, weil die Grenzen verschwimmen. Die (körperliche) Niedergeschlagenheit, die Müdigkeit, die damit oft einhergehende Schlaflosigkeit, sind ein fester Bestandteil des Alltags. Wer vermag als Außenstehender zu sagen, ob es die natürlichen Begleiterscheinungen dauerhafter intensiver Trainings- und Wettkampfbelastung sind oder Anzeichen einer depressiven Episode?

"Diese Krankheit ist fies und gemein, und manchmal endet es so wie bei Andreas [Biermann], trotz Behandlung und trotz aller Hilfe aus dem Umfeld", sagt Jan Baßler, Geschäftsführer der "Robert-Enke-Stiftung".

Sportpsychologen mit falschem Ansatzpunkt?

Gerne wird im deutschen Spitzenfußball darauf verwiesen, dass die Profiklubs sich geöffnet hätten für einen psychologischen Beistand ihrer kostbaren Belegschaft. Alternativmediziner, Mentaltrainer oder Motivationscoaches sind nah dran an den Spielern. So nah, dass sie im "Kicker"-Sonderheft manchmal sogar mit aufs Mannschaftsfoto dürfen.

Sie sind dafür da, um mentale Hemmschwellen der Spieler in konkreten Spielsituationen zu umschiffen. Sie drillen, kitzeln womöglich ein paar Prozentpunkte mehr Leistung heraus. Sie sind nicht: Ausgebildete Psychologen oder Psychiater, unabhängige, externe Dienstleister, eine permanente, neutrale Anlaufstation für den Spieler ohne jegliche Rückverbindung zum Trainerstab oder Querverbindungen in andere Bereiche. Sie sind nicht anonym. Sie sind nicht die Lösung des Problems.

"Es gibt im Trainerstab von Vereinen Ärzte, Physiotherapeuten, Osteopathen - aber meines Wissens hat kein Verein der Welt einen Sportpsychiater fest angestellt", sagt Reng und fordert: "Es müsste von oben, also von der DFL oder dem DFB, eine klare Reglementierung erfolgen, dass jeder Klub einen Psychiater konsultieren sollte."

Immerhin sind die Nachwuchsleistungszentren der Bundesliga-Klubs ab der anstehenden Saison dazu verpflichtet, einen Pädagogen in Vollzeit und einen Psychologen in Teilzeit zu beschäftigen. Die Leistungszentren der 2. Bundesliga und 3. Liga müssen einen Pädagogen in Teilzeit beschäftigen und die Kooperation mit einer psychologischen Betreuung vorweisen.

Spezielle Betreuung von Nachwuchskickern

"Wir müssen gerade Trainer darin schulen, den Druck für einen jungen Fußballer zu erkennen, den Moment, wenn es zu viel wird", fordert Teresa Enke, die der Stiftung vorsteht. "In den Profivereinen ist es zunehmend wichtig, dass ein Austausch zwischen Sportpsychologen und Sportpsychiatern stattfindet. Motivation alleine reicht nicht aus. Die Enke-Stiftung wird darauf hinwirken, dass die Prävention im Kontext von seelischer Gesundheit etwa in den Nachwuchsleistungszentren an Bedeutung gewinnt."

Die sportpsychologische Betreuung der Nachwuchskicker soll damit gewährleistet werden. Aber warum nicht auch die Profikader? Dass gerade Kinder und Jugendliche eine spezielle Betreuung benötigen, gerade während der kühlen Auslese in den Internaten zwischen dem 15. und 19. Lebensjahr, liegt auf der Hand.

Aber was passiert mit jenen, die bereits mittendrin stecken? Oder denen, die nach 15 oder 20 Jahren im Business, mit den immer gleich geregelten Abläufen und Routinen, von einem Tag auf den anderen in ein neues, nahezu unbekanntes Leben eintauchen müssen?

Es ist noch viel zu tun

Die Veteranen der National Football League erkranken auffällig häufig an Depressionen, in England liegt die Depressionsrate ehemaliger Fußballprofis über der der Durchschnittsbevölkerung. Eine echte Prävention oder Vorbereitung auf die Zeit nach der aktiven Karriere findet offenbar kaum oder nur unzureichend statt. Aber auch das sollte ein Ziel sein.

Es ist noch eine Menge zu tun, da ist es umso wichtiger, dass entscheidende Denkanstöße längst erfolgt sind. Und die sich auch in gezielten Maßnahmen niederschlagen. Die Betrachtungsweise, wonach sich seit Robert Enkes Tod im Grunde nichts geändert hätte, ist demnach kaum haltbar.

"Es hat sich definitiv etwas geändert. Die Deutschen wissen seit Roberts Tod mehr über die Krankheit, die Auseinandersetzung mit dem Thema Depression ist seit fünf Jahren auf einem guten Weg. Es gibt eine Geschichte, über die berichtet wird", sagt Jörg Neblung.

Die klassischen Verallgemeinerungen und Plattitüden dürften nicht zu verhindern sein. "Sie wird es immer wieder geben", sagt Ronald Reng. "Aber die Realität spiegelt das nicht wider. Das erkennt man schnell, wenn man sich damit befasst."

Einige haben den Kampf gegen die Krankheit längst aufgenommen. Das ist ein gutes Zeichen. Das Thema benötigt eine stete Aufmerksamkeit und Sensibilisierung derer, die Verantwortung tragen. Damit wäre schon eine Menge gewonnen gegen diesen übermächtigen Gegner. "Es ist auch klar, dass wir niemals alle retten können", sagt Jörg Neblung. Leider hat er damit wohl Recht.

Wenn Sie oder eine Ihnen nahe stehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Nummer: 0800 111 0 111