Abseits von Hunger und Elend

Von Jochen Tittmar
Reiner Calmund (r.) betreut die Nationalmannschaft von Haiti vor dem Benefizspiel als Teammanager
© spox

Die haitianische Nationalmannschaft gastiert derzeit in Deutschland. Am Sonntag tritt das Team in Augsburg zu einem Benefizspiel zugunsten der Opfer der Erdbebenkatastrophe gegen die "ran"-Allstars an (ab 16.45 live bei SAT.1 und ran.de). SPOX hat sich einen Tag in Haitis Unterkunft in der Sportschule Oberhaching am südlichen Rand Münchens umgeschaut und dabei einen Präsidenten auf der Sprudelkiste, viel Gelächter und eine spielstarke Mannschaft entdeckt.

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"Don't worry, be happy!" Bobby McFerrin summt aus den Lautsprechern der Sportschule in Oberhaching, eine Fußballmannschaft schlendert geschlossen vom Speisesaal in Richtung Umkleidekabinen. Die Temperaturen sind eisig, doch die Spieler ziehen sich die Fußballschuhe an und laufen auf die Kunstrasenfläche zum Training. Die Stimmung der Spieler ist ausgezeichnet, es werden allerlei Mätzchen gemacht und extrem viel gelacht.

An sich überhaupt kein ungewöhnlicher Vorgang. Würde es sich bei dieser Mannschaft nicht um die Nationalmannschaft Haitis handeln. Es ist die Auswahl eines Landes, das am 12. Januar 2010 die größte Katastrophe in seiner über 500-jährigen Geschichte verkraften musste. Ein Erdbeben brachte fast 300.000 Menschen um, noch mal so viele wurden verletzt, rund 1,2 Millionen sind obdachlos. Eines der ärmsten Länder der Erde liegt in Trümmern.

Fast alle haitianischen Spieler haben Verluste innerhalb der Familie zu beklagen. Die Nationalmannschaft, die am Sonntag gegen eine von "ran" zusammengestellte Auswahl ehemaliger Bundesligaprofis wie Lothar Matthäus, Giovane Elber und Fredi Bobic zu einem Benefizspiel antritt, logiert auf Kosten des Bayerischen Fußballverbands am südlichen Stadtrand von München.

Und es scheint den jungen Männern zu gefallen, hier, abseits von Hunger, Elend und schlechten Nachrichten. Der Fußball, das wird schnell klar und von allen Beteiligten bestätigt, gilt als Hoffnungsschimmer am verdunkelten Horizont des Inselstaats.

Calmund kennen sie bereits...

Mit lockeren Koordinationsübungen beginnt der kolumbianische Trainer Jairo Rios die Einheit. Gewissenhaft sind seine Spieler bei der Sache, nichtsdestotrotz wird viel geredet, noch mehr gelacht und mitunter auch geblödelt. Manche Spieler haben noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen, springen aber unerschrocken in kurzen Hosen über das Spielfeld.

Als Rios seine Schützlinge in einem Gemisch aus Spanisch, Kreolisch und Französisch anweist, das Ballnetz zu öffnen, erscheint plötzlich Reiner Calmund. Der Ex-Manager von Bayer Leverkusen fungiert als Teammanager für das Benefizspiel und grüßt in rheinischem Englisch in die Runde. Die Spieler winken erfreut zurück. Calli kennen sie bereits. Nicht nur aus dem heimischen Fernsehen, das die Spiele deutscher Mannschaften auch nach Haiti bringt. Am Mittwochabend trafen sie Calmund das erste Mal.

Haitis Nationalmannschaft war auf Einladung des DFB Zeuge der Niederlage Deutschlands im Testspiel gegen Argentinien. Calmund erzählt, wie schwer es war, die Haitianer wieder zum Verlassen der Allianz Arena zu bewegen: "Die saßen das gesamte Spiel über in der Kälte, sind nicht mal in der Halbzeit in den VIP-Bereich gegangen. Anschließend haben sie sich noch die Autos der Stars angeschaut. Wir haben die kaum in den Bus bekommen." Man merkt schnell: Die rheinische Frohnatur hat auf Anhieb einen guten Draht zu den vom Schicksal gebeutelten Fußballern gefunden.

Ein Trainer starb in den Trümmern

Während Calmund ein paar Interviews an der Eckfahne gibt und die Mannschaft den Torabschluss übt, fällt ein älterer Mann auf, der dick eingepackt auf einer kleinen Sprudelkiste kauert. Als er sich die Handschuhe auszieht, erkennt man, dass seine rechte Hand großflächig verbunden ist. Wie Calmund verrät, handelt es sich bei dem Mann, der wie der Onkel der gesamten Mannschaft erscheint, um den Präsidenten des haitianischen Fußballverbandes.

Das Erdbeben hat auch Yves Jean-Bart übel mitgespielt. "Ich flüchtete in aller Eile aus unserem Verbandssitz, als mir ein Steinblock auf den Rücken und die Schulter fiel. Das ist schmerzhaft, aber ich bin noch am Leben. Jean-Yves Labaze, Trainer der U-17-Mannschaft, der sich hinter mir befand, hatte dieses Glück nicht", sagt er. Mehrere gebrochene Finger und ein kürzlich operierter Ellbogen sind sein vermeintlich glückliches Resultat des haitianischen Horrortages.

Von der Sprudelkiste aus beobachtet der Präsident das Treiben auf dem Trainingsplatz und bricht urplötzlich in sympathisches Gelächter aus. Fünf Sekunden später lacht die gesamte Mannschaft. Die Trainingsarbeit wird kurzzeitig eingestellt, da sich auch der Coach den Bauch hält. Ein Spieler, der ganz offensichtlich nicht der Torwart ist, wollte einen Ball aus den Fängen des Tornetzes befreien. Die ungeschützte Ansicht seines Hinterns nahm ein Teamkollege zum Anlass, mit voller Wucht einen Ball in dessen Richtung zu zimmern - Volltreffer.

Das Lächeln bleibt bestehen

Die Übungseinheit endet wenig später, das Dauerlächeln in den Gesichtern der Haitianer bleibt dagegen bestehen. Kalt sei es, aber das blende man bei all dem tollen Drumherum problemlos aus, sagt einer. "Die Deutschen sind sehr großzügig, wir bedanken uns aus tiefstem Herzen für die Hilfe für unser Land", ein anderer. Die Dankbarkeit, das geht aus jedem Gespräch mit den zu jeder Zeit freundlichen Beteiligten hervor, ist aufrichtig und ernst gemeint.

Kurz darauf findet sich das gesamte Team zum Essen im Speisesaal ein. Alle warten, bis auch der Letzte sein Essen vom Buffet geholt hat. Gemeinsam wird die Mahlzeit begonnen, gemeinsam wird sie beendet. Die Jüngsten des Teams räumen die Teller und das Besteck ihrer Kameraden weg.

Die Mittagspause verbringen die meisten auf ihren Zimmern. Kein Wunder, haben doch viele der Spieler die Tage nach dem Erdbeben auf der Straße verbracht, ohne Essen, ohne Wasser. "Die Betten sind total bequem, die Zimmer perfekt - einen solchen Standard kennen viele unserer Leute nicht", sagt der Präsident nicht ohne sich dafür erneut zu bedanken.

Das Ende der Ruhe: Werner Lorant

Es kehrt Ruhe ein in Oberhaching, die Sportschule macht kurzzeitig den Eindruck, als ob sie ausgestorben wäre. Das ändert sich allerdings mit dem Auftritt von Werner Lorant. Der ehemalige Coach von 1860 München findet sich als Trainer einer Auswahl von "SAT.1"-Mitarbeitern ein, die sich am Abend gegen die aktuelle Nummer 90 der FIFA-Weltrangliste versuchen darf.

"Auf geht's, umziehen, aber zackig", brüllt Lorant durch die Lobby und zieht seine unverwechselbare "Werner-Beinhart"-Nummer ab. Immer wieder schaut er auf sein relativ veraltetes Handy und zischt dann: "Ich weiß gar nicht, was die Scheiß-Journalisten heute alle von mir wollen." Geklingelt hat es freilich nicht ein Mal.

Die Haitianer staunen angesichts dieses Mannes mit der weißen Mähne, tuscheln etwas untereinander und stellen Erkundigungen an. Als ich ihnen erkläre, dass er vor geraumer Zeit eine Bundesligamannschaft recht erfolgreich trainierte, wird daraus so etwas wie anerkennendes Staunen.

Lorant verliert - trotz Löw-Taktik

Als beide Teams den Platz zum Warmmachen betreten, rät Lorant seinen Jungs, bloß nicht mit "denen" mitzuspielen und das Spiel stattdessen langsam zu machen. Wie Joachim Löw am Tag zuvor setzt Lorant auf ein 4-2-3-1, das sich allerdings schnell als ziemlich variabel erweist.

Die junge Mannschaft aus Haiti, beobachtet vom Präsidenten, der es sich wieder auf der Sprudelkiste gemütlich gemacht hat, besticht durch Schnelligkeit und technisches Geschick.Die Dreierkette, die zeitweise auf Höhe der Mittellinie beisammen steht, mutet an wie der Ältestenrat, der gerade den nächsten Spielzug diskutiert.

Am Ende geht Haiti mit einem nie gefährdeten 5:0 im Gepäck zurück in das warme Gebäude der Sportschule. Das Fazit des Präsidenten: "So leicht wird es am Sonntag nicht". Das mag stimmen.

Dennoch haben die Haitianer mit ihren schnellen, dynamischen Leuten eine gute Chance. Haiti-Maskottchen Calmund tippt auf ein 4:2. Behält er recht, nimmt die Nationalmannschaft Haitis neben einem hoffentlich stattlichen Erlös vor allem eines mit nach Hause - das Lächeln in ihren Gesichtern.

Weitere Informationen zum Benefizspiel auf ran.de