Wenn der Instinkt verloren geht

Von Dominik Geißler
Lewis Hamilton hat in der Weltmeisterschaft 24 Punkte Rückstand auf Nico Rosberg
© getty

Während Nico Rosberg beim Großen Preis von Europa einen Start-Ziel-Sieg einfuhr, erlebte Lewis Hamilton ein schwarzes Wochenende. Erst patzte er im Qualifying, dann bremste ihn der Mercedes-Motor ein. Ärger über Funkverbot und Technik waren die Folge, doch umstrittene Aussagen des Weltmeisters lassen die Frage aufkommen: Ist der 31-Jährige selbst Schuld an der Misere in Aserbaidschan?

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"Ich werde versuchen, morgen so weit wie möglich nach vorne zu kommen. Aber hier geht es nur noch um Schadensbegrenzung", gab sich Lewis Hamilton nach seinem Crash im dritten Qualifying-Segment kleinlaut. Ein Sieg? War für den Weltmeister außer Reichweite.

An ein Podium dürfte er aber schon gedacht haben - und das zu Recht. Mit seiner Pace rückte Hamilton von Platz zehn startend im Laufe des Rennens schnell bis auf Position fünf vor. Den vor ihm fahrenden Sergio Perez im Force India hätte er wohl ebenso eingeholt wie Kimi Räikkönen, der das Laster einer 5-Sekunden-Zeitstrafe mit sich herumtrug.

Doch dann kam die 27. Runde. Und Hamilton meldete am Boxenfunk Motorenprobleme. "Überall Aussetzer. Ich weiß nicht, was falsch ist. Gibt es keine Lösung?", fragte er seinen Renningenieur Peter Bonnington. Als ihm dieser keine Hilfe geben konnte, wütete Hamilton: "Jungs, das ist lächerlich! Ich schaue alle fünf Sekunden auf mein verdammtes Display und versuche den Schalter zu finden, der in der falschen Position ist."

Problem: Laut FIA-Statuten ist es den Teams mittlerweile verboten, ihren Fahrern technische Hinweise zu geben, die nicht die Sicherheit betreffen. Wie in Artikel 27.1 des Sportlichen Reglements festgeschrieben ist, muss der Fahrer sein Auto alleine und ohne Hilfe pilotieren.

Rosberg löst Problem schneller

Also ging Hamiltons technische Irrfahrt weiter. "Vielleicht beende ich das Rennen nicht. Ich werde jetzt einfach alles verstellen", polterte er mit einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz in der Stimme. Diese Drohung setzte Hamilton am Ende zwar nicht in die Tat um, doch dauerten die Probleme bis acht Runden vor Schluss an. Erst dann fand der WM-Zweite endlich die richtige Motoreneinstellung, wie Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff bestätigte. Mehr als der fünfte Platz war so nicht mehr drin.

Nach dem Rennen ärgerte sich Hamilton über das Funkverbot und nahm sich gleichzeitig in Schutz: "Ich sehe da keinen Vorteil. Die FIA hat die Formel 1 so technisch gemacht. Es gibt 100, 200 verschiedene Einstellungen, ich hätte es nicht selbst lösen können."

Nur: Bei Nico Rosberg traten exakt dieselben Probleme an der Power-Unit auf. Mit dem Unterschied, dass der Deutsche im Vergleich zu seinem Rivalen bloß eine halbe Runde brauchte, um sie zu lösen.

"Leider wurde eine Konfiguration bei der Rennvorbereitung nicht richtig eingestellt. Dies führte zu vorzeitigen Aussetzern auf der Geraden und kostete die Fahrer rund drei bis vier Zehntel pro Runde", erklärte Technikchef Paddy Lowe die silbernen Schwierigkeiten.

Und Wolff fügte an: "Man musste die Schalter verstellen, aber wir dürfen den Fahrern nichts mehr über Funk sagen. Das sorgte für Verwirrung. Bei Lewis dauerte es länger, um es zu resetten. Nico war in einer glücklicheren Situation, weil er zuvor einen Schalter verstellt hatte."

Büffeln? "Mein Instinkt hilft mir mehr"

Doch war Rosbergs schnelle Lösungsfindung wirklich nur Zufall? "Das war Kopf und Glück", meinte Aufsichtsratsboss Niki Lauda. Der WM-Führende ist dafür bekannt, sich mit technischen Hintergründen besonders gut auszukennen und so viele Details wie möglich aufzusaugen.

"Umso ordentlicher man sich damit auseinandersetzt und die 'Driver Manuals' liest, die es dazu gibt, und auch die Zeit im Simulator nutzt, umso einfacher kann man vielleicht die Schritte verfolgen und Ideen haben, wie man da raus kommt als Fahrer", kritisierte RTL-Experte Timo Glock Hamilton indirekt.

Der Mann mit der Startnummer 44 ist schließlich nicht bekannt dafür, viel Zeit in die Rennvor- und nachbereitung zu investieren. Partys, Reisen und VIP-Leben liegen ihm da schon näher, wie ihm in der Öffentlichkeit immer wieder vorgeworfen wird.

"Die Leute denken immer, wenn Nico 100 verschiedene Punkte lernt, muss ich sie auch lernen. Ich schaue mir dann die Liste mit 100 Punkten an und lerne die für mich wichtigsten zehn", verteidigte sich Hamilton nach dem Kanada-GP: "Die Ingenieure berechnen alles, haben Zahlen. Mein Instinkt beim Fahren für gewisse Situationen hilft mir mehr als Zahlen."

Aussetzer zum ungünstigsten Zeitpunkt

Doch dieses Gespür scheint der dreimalige Weltmeister für den Moment verloren zu haben. Schon am Samstagnachmittag zeigte er ungewohnte Schwächen. Nachdem er alle Freien Trainings bei der Premiere in Baku dominiert hatte, versagten ihm im entscheidenden Qualifying die Nerven.

Vier Verbremser zählten die Statistiker in der Session, ehe Hamilton in Kurve elf anschlug und sich die Radaufhängung beschädigte. Ein Missgeschick, das jedem hätte passieren können, in Hamiltons Situation aber zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt kam.

Zum einen war er gerade wieder dabei, die Weltmeisterschaft in seine Richtung zu lenken. Zum anderen weil er erst tags zuvor das Üben im Simulator auf süffisante Weise für unnötig erklärt hatte. "Unser Simulator ist nicht besonders gut. Wenn man sich eine Playstation kauft, ist das etwa das Gleiche, wie im Simulator zu sitzen." Auch auf eine Begehung der noch unbekannten Strecke am Donnerstag verzichtete Hamilton - als einziger der 22 Piloten.

Zum Abschreiben zu früh

An diesem Wochenende kamen somit mehrere - in vielerlei Hinsicht - unglückliche Dinge zusammen, die Hamilton alt aussehen lassen haben. Doch: Er gewann die beiden vorherigen Rennen. Er zeigte, dass mit ihm immer zu rechnen ist, wenn ihn die Technik nicht im Stich lässt. Dass er in der Lage ist, seinen Titel zu verteidigen und damit die dritte Weltmeisterschaft in Folge zu gewinnen.

Hamilton nach einem verkorksten Wochenende abzuschreiben, wäre also falsch - wohl genauso wie sich immer auf seinen Instinkt zu verlassen. Doch das dürfte der 45-fache Grand-Prix-Sieger nun selbst am besten wissen.

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