"Die Chance zu überleben stand 7:1"

Emerson Fittipaldi gewann die Formel-1-Weltmeisterschaft 1972 und 1974
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SPOX: Lassen Sie uns nochmal auf das Team Lotus zurückkommen. Nach Rindts Tod verabschiedete sich auch der Nummer-2-Fahrer. John Miles, der für Lotus mal ein Rennen mit Benzinleck und Sprit im Cockpit fuhr, dauerhaft Motorenschäden hatte, mal komplettes Bremsversagen auf dem alten Highspeed-Österreichring, verabschiedete sich. Es war ihm zu gefährlich. Lotus ließ den Grand Prix von Kanada aus, beim USA-Gastspiel in Watkins Glen waren Sie plötzlich von der Nummer 3 zur Nummer 1 aufgestiegen. Sie waren gerade erst 23 Jahre alt, für einen Rennfahrer zur damaligen Zeit fast ein Kind.

Fittipaldi: Der Druck war riesig. Nach Monza, Jochens Tod und John Miles Rücktritt erwarteten alle, dass Colin einen erfahrenen Fahrer verpflichten würde. Ich habe zwei Wochen in meinem Haus gesessen und auf einen Anruf gewartet. Dann erst rief mich Colin an und sagte, dass wir zum US-Grand-Prix fliegen. Ich wollte wissen, wer der Nummer-1-Fahrer wird, da sagte er mir, dass ich es sein soll. Unglaublicher Druck. Ich bin es positiv angegangen und hatte Glück. Es war ein sehr gutes Wochenende und ich gewann das Rennen. Das hat die Zusammenarbeit im Team verändert.

SPOX: Die Saison 1971, Ihre erste komplette in der Formel 1, schlossen Sie noch als Sechster ab. Doch ein Jahr später wurden Sie zum jüngsten Weltmeister der Geschichte. Erst Fernando Alonso löste Sie im Jahr 2005 ab. Allein die Namen der Fahrer in der Saison machen deutlich, wie groß die Konkurrenz war: Jackie Stewart, ...

Fittipaldi: Clay Ragazzoni, Carlos Reutemann, Niki Lauda, James Hunt - alle. (lacht)

SPOX: War Ihnen damals bewusst, wie speziell Ihr Erfolg war?

Fittipaldi: Das ging viel früher los. Mein erster Grand Prix war in Brands Hatch. Plötzlich war Graham Hill neben mir. Das war surreal. Dann war da noch Danny Hulme, Jackie Stewart und der ganze Rest. Ich habe sie, die Generation vor mir, die "Monster der Formel 1" genannt. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich war überrascht, wie schnell alles ging. Ich hatte vier wirklich gute Jahre mit Colin. Er war der beste Lehrer, wenn es um Rennen ging. Kurz bevor ich die WM 1972 gewann, kam er zu mir: "Emerson, ich werde dir jetzt etwas sagen: Ich will dir nicht noch näher stehen. Ich habe so viele Fahrer verloren. Ich habe Angst, dich zu verlieren." Ich war schockiert. Es war die Realität und trotzdem ein Schock.

SPOX: Wie haben Sie reagiert?

Fittipaldi: Nachdem ich den Titel gewonnen hatte, bin ich von Mailand zurück in die Schweiz gefahren. Ich habe damals in Lausanne gewohnt. Mit meinem Vater und meinem Bruder habe ich mich zum Mittagessen getroffen. Ich habe meinem Vater gesagt: "Ich trete zurück." Mein Vater erklärte mich für verrückt. Ich aber dachte, ich könne nichts mehr erreichen. Ich hatte die Weltmeisterschaft gewonnen. Sie zweimal gewinnen? Warum? Mein Vater hat mich durchschaut. Er sagte: "Jetzt wirst du damit zurechtkommen. Aber schon nach einem Jahr willst du wieder im Auto sitzen. Dann wirst du es bereuen." Es fiel ihm schwer, das zu sagen. Er war mein Vater, das Risiko hoch. Aber er hatte Recht.

SPOX: Am Ende der Saison 1973 haben Sie Lotus verlassen und sich McLaren angeschlossen. Es gab jedoch auch Angebote von anderen Teams, unter anderem Brabham und Tyrrell, dem aktuellen Weltmeisterrennstall. Warum wollten Sie zu McLaren, das noch nie eine WM gewonnen hatte?

Fittipaldi: McLaren hatte ein gutes Auto. Es war ein kleiner Rennstall, aber sehr gut organisiert. 90 Prozent der Teammitglieder kamen aus Neuseeland. Für Europäer ist das manchmal schwer zu verstehen: Wenn man seine Heimat auf einem anderen Kontinent verlässt und nach England kommt, ist das etwas ganz anderes, als wenn man innerhalb von Europa umzieht. Mit dem Flugzeug ist man in einer Stunde wieder zu Hause. Ich als Brasilianer habe diese Jungs aus Neuseeland gesehen, sie hatten dieselbe Hingabe wie ich. Bei meiner Entscheidung hatte ich eine große Verantwortung: Philipp Morris sagte, ich solle das Team aussuchen. Deshalb hat McLaren das Sponsoring von Marlboro bekommen. Und wir haben schon im ersten Jahr die Weltmeisterschaft gewonnen.

SPOX: Das Saisonfinale 1974 ging in die Annalen ein. Sie kamen mit Clay Regazzoni punktgleich als Führender der Fahrer-WM nach Watkins Glen. Jody Scheckter hatte als Dritter noch Außenseiterchancen. Sie mussten nur an Regazzoni vorbei, um die WM einzutüten. Das war aber gar nicht so einfach...

Fittipaldi: Clay war doof. (lacht) Nicht falsch verstehen: Wir waren sehr gute Freunde. Aber auf der Strecke... Wenn man an ihn rangekommen ist, ging er volles Risiko. Es war gefährlich. In Watkins Glen lief mein Auto nicht gerade gut. Seines auch nicht. Wir standen beim Start nebeneinander. Es war das einzige Mal in meiner gesamten Karriere, dass ich vor dem Rennen nicht schlafen konnte. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Startaufstellung zu ihm herübergeguckt habe. Er guckte mich an. Unsere Mechaniker guckten sich gegenseitig an. Wir wussten: Wer vor dem anderen ankommt, wird Weltmeister.

SPOX: Er kam besser weg als Sie.

Fittipaldi: Ja. Aber auf der Geraden bin ich in den Windschatten und dann neben ihn gekommen. Er hat mein Auto ins Gras gedrückt. Ich bin sofort vom Gas gegangen. Trotzdem haben wir uns berührt. Clay hat die Lenkung aufgemacht, er wollte nicht crashen. Am Ende der Gerade war ich immer noch neben ihm. Ich kam zuerst aus der Kurve und war Weltmeister.

SPOX: Sie haben sich danach einen Traum erfüllt: Mit Ihrem Bruder gründeten Sie Ihr eigenes Team unter dem Sponsorennamen Copersucar. Ein weiterer Titel kam nicht dazu. Die meiste Zeit fuhren Sie hinterher, sofern Sie sich überhaupt qualifiziert hatten. War der Schritt ein Fehler?

Fittipaldi: Es hätte mehr Zeit gebraucht. Beim Deutschland-GP 1980 hatten wir unser neues Auto, ein sehr gutes Auto. Keke Rosberg qualifizierte sich als Vierter, ich als Fünfter, glaube ich. Das Auto war die erste Arbeit von Adrian Newey. Dass er etwas von Aerodynamik versteht, war schon damals klar. Doch plötzlich bekam ich einen Anruf aus Brasilien mit der Mitteilung, das Sponsoring sei beendet. Damit mussten wir aufhören. Wirklich genossen habe ich das Fahren damals nicht. Das hatte aber einen anderen Grund. Die Achtziger waren die Zeit der Ground-Effect-Autos. Es war sehr gefährlich.

SPOX: Das sollten wir vielleicht kurz erklären: Bei den Autos wurde der Unterboden durch flexible Seitenschürzen abgedichtet. So entstand riesiger Anpressdruck. Kam aber Luft darunter, etwas beim Überfahren der damals viel höheren Kerbs, flog das Auto im selben Moment von der Strecke.

Fittipaldi: Genau.

SPOX: Im Alter von 33 Jahren, nach 10 Jahren in der Formel 1 traten Sie Ende des Jahres 1980 vom Rennsport zurück. Die Vorhersage Ihres Vaters sollte sich dennoch erfüllen, wenn auch ein paar Jahre später. Zur Saison 1984 stiegen Sie in die CART, die Champcar-Serie, ein. Einige Siege folgten, der große Wurf gelang aber erst im Jahr 1989 beim Indy 500. Die letzten drei Runden waren der schiere Wahnsinn.

Fittipaldi: Verrückt, trifft es ganz gut. Mein Auto war perfekt, ich habe das ganze Rennen dominiert. Beim letzten Boxenstopp haben sie mir zu viel Benzin eingefüllt. Das Auto war sehr schwer und Al Unser jr. holte mich ein. Nach so vielen Runden in Führung dachte ich mir, dass ich dieses Rennen einfach nicht verlieren darf. Es war mein Traum in Indianapolis zu gewinnen. Wir fuhren die Gegengerade nebeneinander auf Turn 3 zu. Wir haben uns dabei angeguckt. Er wurde vom Verkehr aufgehalten. Ich konnte nach innen ziehen. Wir wollten beide nicht zurückweichen. Ich bin in sein Auto gerutscht. Er ist in die Mauer gerutscht. Es war ein Glücksspiel. Ich habe das Rennen gewonnen, glücklicherweise hat er sich nicht verletzt. Ein unglaubliches Rennen.

SPOX: Den Erfolg wiederholten Sie vier Jahre später. Ihre Siegesfeier kam bei den US-Amerikanern aber überhaupt nicht gut an. Sie tranken statt der üblichen Milch Orangensaft. Ein Marketing-Coup, Sie sind einer der größten Orangenproduzenten Brasiliens.

Fittipaldi: Ich habe Milch getrunken! Danach gab es Orangensaft, aber nur davon wurden Fotos veröffentlicht. Ich habe das ganze Jahr über bei jedem Sieg Orangensaft bekommen. (lacht) Es gab viel mehr Reaktionen, als ich es für möglich gehalten hätte.

SPOX: Was ein wenig seltsam erscheint: Sie sind nie in Le Mans gefahren, weil es Ihnen zu gefährlich war. Die Ovalrennen aber fuhren Sie. Bei Rekordwerten von über 350 km/h.

Fittipaldi: Der Unterschied ist: In Indianapolis ist das Risiko kalkulierbar. Wenn es aber in Le Mans regnet, vielleicht noch bei Nacht, dann gibt es nur böse Überraschungen.

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