Vorfahrt für Vettel - um jeden Preis

Von Jan-Hendrik Böhmer / Harry Miltner
Runde 40 beim Türkei-GP: Sebastian Vettel (r.) und Mark Webber geraten aneinander
© xpb

Mark Webbers später Durchbruch kommt Red Bull ungelegen. Der Grund: Das Team will Sebastian Vettel als Nummer eins durchsetzen. Da ist sich Formel-1-Experte Niki Lauda im Gespräch mit SPOX sicher. Er und andere Experten warnen vor den Konsequenzen.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

"Wer dachte, Webber sei nur eine Nummer zwei hinter Vettel, wurde eines Besseren belehrt", sagt Niki Lauda im Gespräch mit SPOX.

Schnell, das war Mark Webber schon immer. So wie bei seinem Debüt in der Formel 1. 2002 war das, beim Heimrennen in Australien. Da fuhr er im hoffnungslos unterlegenen Minardi auf Platz fünf.

Doch Talent reicht oft nicht aus. Besonders in der Formel 1. Webbers Problem: Er galt als Trainingsweltmeister. Als Fahrer, der seine Chancen nicht nutzte und auf Dauer nicht konstant genug war. Immer wieder ließ er - wie 2009, als er Vettel nach zehn Rennen in der Gesamtwertung überholte - sein Talent aufblitzen. Alles, nur um am Ende der Saison doch wieder als Mitläufer dazustehen. Als Nummer zwei. Und wenn es dumm läuft, würde er am Ende seiner Karriere abgestempelt als Typ Barrichello. Als Wasserträger. Kurz: Mittelmaß.

Der unterschätzte Herr Webber

"Genau das waren wir, als er für uns fuhr: Mittelmaß", sagt Webbers ehemaliger Teamchef Frank Williams. "Und wir dachten, Mark ist ein Teil des Problems. Wir haben ihn einfach nicht als erste Wahl betrachtet." Und das taten wenige. Auch Red Bull nicht.

Denn zwar erklärt das Team immer wieder, dass beide Fahrer die gleichen Chancen haben und man sich über die "Konkurrenz auf hohem Niveau" freue, doch das war, bevor Webber die Führung übernahm. "Es war schlichtweg nicht geplant, dass Webber als Nummer eins um den WM-Titel kämpft", schreibt der britische Journalist Tony Dodgins im "Autosport"-Magazin.

Das sollte Vettels Aufgabe sein, schließlich transportiert er das jugendliche, dynamische Image der Marke Red Bull perfekt. Teamchef Christian Horner hat in der Vergangenheit mehrfach öffentlich betont, dass er "das Team um Vettel herum aufbauen" wolle. Und Webber war damit einverstanden.

Wendepunkt: Barcelona

Doch dann kam die Wende. Nach seinem Sieg in Barcelona stürmte Webber auf die Zielgerade und feuerte seinen 5000 Euro teuren Helm in die Zuschauerränge. In Monaco zelebrierte er seinen Sieg erst mit einem Rückwärtssalto in den Pool und dann mit einem Sprung vom Dach der im Hafenbecken schwimmenden Red-Bull-Energy-Station.

Der Knoten war geplatzt, Webber entdeckte eine neue Tugend: Selbstvertrauen. "Wäre sein Selbstvertrauen ansteckend, drohte dem Landstrich um Istanbul eine Infektionskrankheit", beschrieb es ein Journalist, der Webber vor dem Türkei-GP beobachtete.

Man merkt dem Australier von Rennen zu Rennen mehr an, dass er erstmals seit seinem Fahrrad-Unfall im Winter 2008 (bei dem er sich das rechte Bein brach) komplett schmerzfrei ist. "Er und Vettel sind mittlerweile mindestens gleichwertig", meint Williams.

Ein verhängnisvoller Unfall

Zwei gleichwertige Piloten im schnellsten Auto des Feldes - und beide an der WM-Spitze. Eigentlich könnte sich Red Bull entspannt zurücklehnen. Eigentlich. Doch es kam die 40. Runde des Türkei-GP - und mit ihr ein Crash, der weit mehr zu Tage förderte als einen erbitterten Generationen-Kampf zwischen zwei Teamkollegen.

Nämlich den Verdacht, dass Webbers später Durchbruch unerwünscht ist. Der Vorwurf: Stallorder. Die Gleichbehandlung der Fahrer sei nur ein Lippenbekenntnis.

"Erst dadurch, dass das Team Einfluss nehmen wollte, lief alles durcheinander", analysiert Lauda. "Es hat wirklich den Anschein, als wolle man Sebastian mit aller Gewalt zur Nummer eins im Team machen." Ein Gedanke, den auch Webber nicht ausblenden kann.

"Ich habe gedacht, sie würden nachtanken"

Zwar ist der 33-Jährige intelligent genug, um seine Vertragsverlängerung (laut Red-Bull-Berater Dr. Helmut Marko: "Mehr oder minder eine Formalität") nicht mit direkten Anschuldigungen zu behindern. Sichtlich angefressen ist er dennoch.

Kritikpunkt 1: Sein Boxenstopp. "Ich habe gedacht, sie würden nachtanken", beschwert sich der Australier. "Schnell waren die jedenfalls nicht." In Zahlen ausgedrückt: Webber stand acht Zehntelsekunden länger als Teamkollege Vettel. Keine Welt - aber bemerkbar.

Kritikpunkt 2: Wie kam Vettel überhaupt so nah an Webber heran? Ob es dafür einen Grund gegeben habe, fragten Journalisten. Webbers Antwort: "Hmm, vielleicht". Ein Fahrfehler sei es jedenfalls nicht gewesen. "Da müssen sie schon woanders suchen", so Webber.

Wird Vettel vom Team gedeckt?

Und zwar beim Team. Denn das gab Webber die Order, langsamer zu machen. Um Benzin zu sparen, wie es heißt. Während Vettel noch mindestens eine Runde Vollgas fahren sollte. "Das ist deine letzte Chance", soll die Box Vettel vor dessen Manöver angestachelt haben. Vettel sollte also gewinnen. Da macht man bei Red Bull auch gar kein Geheimnis draus. Webbers Renningenieur solle dem Australier mitteilen, Vettel passieren zu lassen.

"Das ist ja keine Manipulation", rechtfertigt sich Marko in der TV-Sendung "Sport und Talk aus dem Hangar-7". "Die Message an Webber hätte lauten sollen: Du bist zu langsam. Vettel ist schneller. Kämpfe nicht gegen ihn. Das war ja keine Stallorder, das war Fakt."

Brisant: In England kursieren Gerüchte, wonach Vettel bereits die gleiche Benzinspar-Order bekommen, sie aber einfach ignoriert hatte - und jetzt vom Team gedeckt wird.

Bremst sich Red Bull selber aus?

Ein Verdacht mit weitreichenden Folgen. "Das wahre Problem ist nicht der Unfall", schreibt der renommierte Journalist und Formel-1-Experte Joe Saward. "Das Problem ist, dass einer der Piloten - und dann auch noch der, der ganz nebenbei die WM anführt - seinem Team möglicherweise nicht mehr vertrauen kann. Und wenn Webber ab sofort immer mit einem Auge darauf achtet, ob sich das Team nicht hinter den Kulissen pro Vettel einmischt, dann schwächt das den gesamten Rennstall enorm."

Das weiß man auch bei Red Bull. "Wir werden die Angelegenheit offen mit den Fahrern diskutieren, aus unseren Fehlern lernen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Vor Kanada werden wir reinen Tisch machen", verspricht Teamchef Christian Horner. Eine Krisensitzung ist noch für diese Woche geplant.

McLaren freibt sich die Hände

Bei McLaren reibt man sich dennoch bereits die Hände. "Uns spielt das in die Karten", sagt Jenson Button. "Denn während wir als Doppelsieger nach Kanada kommen, sind sie sich in die Kiste gefahren. Und wenn sie nicht miteinander auskommen, dann werden sie wohl auch nicht alle Informationen teilen." Sprich: Man gefährdet die WM.

Denn will man Vettel (der 15 Punkte hinter Webber auf Rang fünf liegt) tatsächlich mit aller Macht zum Weltmeister machen und bremst Webber deshalb ein, läuft man Gefahr, dass Button und Teamkollege Lewis Hamilton in der Zwischenzeit davonziehen.

Legt sich Red Bull auf eine Nummer eins fest?

"Es wäre logisch, sich im Team auf einen Fahrer zu konzentrieren, aber das ist normalerweise der, der in der WM vorne liegt", sagt Lauda. "Es wäre wahrscheinlich leichter", muss selbst Red-Bull-Mann Marko einräumen. "Aber das ist nicht im Sinne unseres Teams."

Ebenfalls nicht im Sinne von Red Bull ist es, dass das Image des Gute-Laune-Teams leidet.  Denn erst Tage nachdem die meisten Fahrer und Experten klar Vettel den Schwarzen Peter zugeschoben hatten, ruderte man auch in Milton Keynes bei der Bewertung des Unfalls zurück - und entlastete Webber. "Nach Sichtung aller Informationen war es wohl ein ganz normaler Rennunfall, der unter Teamkollegen nicht hätte passieren dürfen", sagt Teamchef Horner.

Für Lauda ein Lippenbekenntnis: "Im Team gibt man Webber die Schuld, weil man wollte, dass Vettel vorbei gewunken wird. Aber das ist Teamorder - und damit verboten." Aussprache hin oder her: Ausgestanden ist das Thema noch lange nicht.

Red-Bull-Crash: Fahrer geben Vettel die Schuld