„From hero to zero“

Die glorreichen Zeiten in Schweden, in denen Spieler wie Björn Borg, Mats Wilander und Stefan Edberg Titel wie am Fließband abräumten, sind längst vorbei.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 23.12.2013, 16:19 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Was ist bloß mit dem Herrentennis in Schweden passiert? Die einstige dominierende Nation ist Stück für Stück in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Seit dem krankheitsbedingten Ausfall des zweifachen French-Open-Finalisten Robin Söderling, der seit Juli 2011 mit Pfeifferschem Drüsenfieber aussetzen muss, ist Schweden von einem Top-100-Spieler meilenweit entfernt. Schwedische Herren sucht man in den Tableaus der Grand Slams oder ATP-Turniere vergeblich. Der bekannteste Schwede, der auf der ATP-Tour aktiv ist, heißt Mohamed Lahyani, der wohl bekannteste aktive Profi-Schiedsrichter.

Schaut man in die aktuelle Herren-Weltrangliste muss man lange blättern, um den ersten Schweden zu entdecken. Es ist Markus Eriksson, 24 Jahre alt und derzeit auf Platz 415 notiert. Es spricht Bände, wenn die schwedische Nummer vier ein Spieler ist, der nur ein Turnier gespielt hat: Joachim Johansson, ehemals Nummer neun der Welt und derzeit auf Platz 694 notiert. Der 31-jährige Johansson, der 31 Monate lang kein Turnier gespielt hatte, gab im Oktober dieses Jahres in Stockholm ein Mini-Comeback und schaffte es aus der Qualifikation heraus ins Achtelfinale. Kurioserweise hätte Johansson mit einem Halbfinaleinzug die schwedische Nummer eins werden können - und das mit nur einem gespielten Turnier. Das zeigt schon, wie es um das schwedische Herrentennis bestellt ist.

17 Top-Ten-Spieler und sieben Davis-Cup-Titel

Während die schwedischen Damen im Welttennis bis heute nie eine große Rolle gespielt haben, war es bei den Herren komplett anders. Das bevölkerungsarme Land in Skandinavien brachte bislang 17-Top-Ten-Spieler bei den Herren hervor. Zum Vergleich: Deutschland, in dem 70 Millionen Leute mehr leben als in Schweden, kommt bislang nur auf fünf Top-Ten-Spieler bei den Herren. Über mehrere Jahrzehnte waren die Schweden eine der domierenden Nationen im Herrentennis. Die Skandinavier standen zwischen 1975 und 1998 zwölfmal im Davis-Cup-Endspiel und gewannen sieben davon. Mit Björn Borg, Mats Wilander, Stefan Edberg und Thomas Johansson brachte Schweden zwischen 1974 und 2002 vier Grand-Slam-Sieger und drei Weltranglisten-Erste hervor. Hinzu kommen mit Mikael Pernfors, Thomas Enqvist, Magnus Norman und Robin Söderling vier weitere Spieler, die ein Grand-Slam-Finale erreicht haben.

Zwischen 1974 und 1992 kamen 24 der 76 Grand-Slam-Sieger im Herrentennis aus Schweden, also fast ein Drittel und nur einer weniger als die USA mit 25 Siegern in dieser Zeitspanne. 1988 kamen sogar alle Grand-Slam-Champions aus Schweden, als Wilander drei und Edberg einen Titel holte. Abgesehen von Rod Lavers Kalender-Grand-Slam im Jahr 1969 ist Schwedens Durchmarsch im Jahr 1988 das einzige Jahr in der Profiära, in dem ein Land alle Grand-Slam-Titel bei den Herren innehatte. "Jeder war verwöhnt durch den riesigen Erfolg. 1988 hat Wilander drei Grand Slams gewonnen und Edberg den anderen. Was passiert danach? Du kannst es nicht besser machen", erklärte Mikael Tillström, ehemals Nummer 39 der Welt, in der "New York Times".

Fehlende Plätze

Alles fing an mit den Erfolgen von Björn Borg, der nicht nur einen weltweiten Tennis-Boom auslöste, sondern Schweden auch auf die Tennis-Landkarte brachte. Die Folge des Börg-Booms: Die Skandinavier produzierten Top-Ten-Spieler wie am Fließband. Jeder wollte so sein wie der große Björn, wovon das schwedische Herrentennis ungemein profitierte. Doch von den Glanzzeiten der früheren Jahre kann man in Schweden nur noch träumen. Aus der ehemaligen Weltnation ist ein Entwicklungsland geworden, quasi "from hero to zero".

Die Gründe für den Absturz sind vielfältig. Zum einen fehlt es in Schweden an Tennisplätzen, wie Robin Söderling gegenüber der "New York Times" erklärte. "Wir müssen acht Monate im Jahr in der Halle spielen. Wir haben einfach nicht genügend Plätze. Es ist sehr schwer, einen Platz zu bekommen, vor allem für Kinder und in den größeren Städten. Hier in Stockholm ist es nahezu unmöglich, einen Platz zu bekommen, wenn du nicht früh am Morgen oder sehr spät am Abend spielst." In die gleiche Kerbe schlägt Magnus Norman ein, der 2011 mit Nicklas Kulti und Tillström die "Good to Great Academy" in Stockholm gegründet hat, um etwas daran zu ändern.

Globalität und Verlust der Top-Trainer

"Wir haben so viele Freizeitspieler und haben nicht genügend Plätze. Gleichzeitig muss man viel auf den Platz sein, um einen Top-Ten-Spieler oder Top-50-Spieler zu produzieren. Ich denke nicht, dass wir genügend Plätze haben. In Schweden haben wir über das Jahr hinweg acht Monate Winter. Deshalb spielen wir drinnen, wo die Einrichtungen so viel teurer sind. Wir wollen unser eigenes Center bauen, wo unser einziger Fokus darauf liegt, zukünftige Top-100-Spieler zu entwickeln. Keine Freizeitspieler, nur hohe Leistung", sagte Norman. Ein weiterer Aspekt beim Niedergang des schwedischen Herrentennis ist, dass der Wettbewerb globaler geworden ist. "Tennis war teuer. Ich denke, dass Schweden ein ziemlich reiches Land war. Viele Leute konnten spielen verglichen mit anderen Ländern. Und jetzt hat es sich verändert, denke ich. Viel mehr Leute auf der ganzen Welt spielen", stellt Joachim Johansson fest.

Auch Jonas Björkman, ehemals Nummer vier der Welt, sieht es genauso und verweist zudem darauf, dass Schweden zahlreiche Top-Trainer abhanden gekommen sind. "Tennis hat sich verändert, sehr viele Länder spielen jetzt. Es ist ein weitaus breiterer Sport als vorher. Wir sind auch zurückgefallen, weil wir alle unsere tollen Trainer verloren haben. Alle großartigen Trainer, die wir hatten, haben gute internationale Angebote bekommen. Peter Lundgren hat Roger Federer trainiert. Mein Trainer hat Mario Ancic trainiert, und wir haben einige im englischen Verband. Unsere Junioren bekommen daher nicht das Trainingsniveau, das sie bekommen sollten."

Vorbilder fehlen, andere Sportarten interessanter

Länder wie Spanien und Frankreich schickten in der Hochphase Repräsentanten nach Schweden, um den Erfolg zu studieren. Sie nahmen sich der Methoden an und reisten zurück in ihre Länder, um diese zu verbessern. Söderling meint aber auch, dass man sich lange auf den Lorbeeren ausgeruht und die Entwicklung verschlafen habe. "Alle Tennistrainer in Schweden dachten, dass sie ein Modell gefunden haben, wie Tennis gespielt werden sollte. Das hat in den Achtzigern funktioniert. Aber Tennis hat sich in den letzten 20, 30 Jahren enorm verbessert. Ich denke, dass Trainer hängengeblieben sind." Mittlerweile fehlt es auch an Tennis-Vorbildern in Schweden, mit denen sich die Kinder identifizieren können. "Ich habe es geliebt, alle schwedischen Spieler zu sehen. Ich war sehr patriotisch, als ich ein Kind war. Es war toll, weil in jedem Turnier mindestens ein Schwede gut abgeschnitten hat. Es gab einen schwedischen Spieler, dem man folgen konnte. Ich habe hauptsächlich deswegen mit Tennis angefangen", berichtet Söderling.

Andere Sportarten haben Tennis mittlerweile den Rang abgelaufen. Neben den Volkssportarten Fußball mit dem Mega-Star Zlatan Ibrahimovic und Eishockey mit einigen NHL-Spielern ist vor allem Golf eine populäre Sportart in Schweden. Sechs Schweden standen im November unter den Top 100 der Golf-Weltrangliste, darunter Henrik Stenson auf Platz drei. Die Erfolge von Söderling in den vergangenen Jahren haben die Probleme im schwedischen Herrentennis etwas kaschiert. Die Probleme werden aber mittlerweile immer augenscheinlicher. "Es wurde offensichtlicher, als Robin krank wurde. Wenn du wirklich im Tennis drinsteckst, wusste jeder, dass es zu dieser Zeit nur Robin und dann gar nichts gab. Aber als er krank wurde, haben es die Medien und all die anderen auch bemerkt", sagt Björkman. Söderling ist seit zweieinhalb Jahren nicht mehr auf der ATP-Tour aktiv. Seitdem gab es keinen schwedischen Spieler in den Top 300.

Kein starker Nachwuchs in Sicht

Skandinavien wird im Herren-Einzel hauptsächlich durch Jarkko Nieminen vertreten. Der Finne, derzeit Nummer 39 der Welt, hat vor zehn Jahren in Schweden trainiert und vermisst seine skandinavischen Kollegen. "Für mich ist es eine andere Atmosphäre auf der Tour, weil es keine schwedischen Spieler mehr gibt. Sie waren meine besten Freunde. Das ist nun ein anderes Gefühl. Es gab meist eine schwedische Ecke in der Umkleide. Das gibt es nicht mehr." Wie kommt man nun raus aus der Krise? "Wir brauchen wirklich einen guten Spieler, einen Top-Spieler, sodass die Kinder lieber Tennis spielen, als andere Sportarten zu betreiben", meint Söderling. So richtig verheißungsvoller Nachwuchs aus Schweden ist allerdings nicht in Sicht. Daniel Berta, der 2009 das Jahr als Nummer eins der Junioren beendet hat, ist mittlerweile 21 Jahre alt und hat den Übergang zu den Profis nicht geschafft. 2013 spielte Berta nur zwei Turniere auf der ITF-Tour. Die meisten Hoffnungen ruhen auf dem 17-Jährigen Elias Ymer, Sohn eines Marathonläufers aus Äthiopien und derzeit Nummer 770 der Welt. Ymer hat im Oktober dafür gesorgt, dass Schweden im Davis Cup in der Weltgruppe I bleibt.

Im Relegationsspiel gegen Dänemark lagen die Schweden mit 0:2 zurück und konnten die Partie noch drehen. Ymer gewann das entscheidende fünfte Match und wurde der jüngste Schwede, der ein Match im Davis Cup gewinnen konnte seit Wilander im Jahr 1982. "Ich arbeite härter unter Druck. Ich mag es, wenn der Druck auf mir lastet", gibt sich Ymer selbstbewusst. Thomas Johansson, Australian-Open-Sieger von 2002 und letzter Grand-Slam-Titelträger aus Schweden, bittet um Geduld und Nachsicht. "Wovor ich Angst habe, ist, dass wir einen 14-, 15-, 16, 17-jährigen Jungen finden, auf den alle schauen. Sie werden ihm alles geben. Und das macht mich etwas ängstlich." Dem schwedischen Herrentennis steht wohl, sofern kein Spieler wie Phönix aus der Asche auftaucht, eine längere Dürreperiode ohne Top-Spieler bevor. Den Satz "Alter Schwede, spielt der ein gutes Tennis" wird man in naher Zukunft sicherlich nicht über einen schwedischen Spieler hören.

Die schwedischen Top-Ten-Spieler im Überblick:

Björn Borg: elf Grand-Slam-Titel, Platz 1 (109 Wochen)

Mats Wilander: sieben Grand-Slam-Titel, Platz 1 (20 Wochen)

Stefan Edberg: sechs Grand-Slam-Titel, Platz 1 (72 Wochen)

Thomas Johansson: Titel Australian Open, Platz 7

Magnus Norman: Finale French Open, Platz 2

Robin Söderling: zweimal Finale French Open, Platz 4

Thomas Enqvist: Finale Australian Open, Platz 4

Mikael Pernfors: Finale French Open, Platz 10

Jonas Björkman: Halbfinale Wimbledon und US Open, Platz 4

Anders Järryd: Halbfinale Wimbledon, Platz 5

Hendrik Sundström: Viertelfinale French Open, Platz 6

Kent Carlsson: Achtelfinale French Open, Platz 6

Joakim Nyström: Viertelfinale French Open und US Open, Platz 7

Joachim Johansson: Halbfinale US Open, Platz9

Magnus Larsson: Halbfinale French Open, Platz 10

Jonas Svensson: Halbfinale French Open, Platz 10

Magnus Gustafsson: Viertelfinale Australian Open, Platz 10

(Foto: GEPA pictures / Collage: tennisnet.com)

von Christian Albrecht Barschel

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23.12.2013, 16:19 Uhr