Becker, Lendl und der weltberühmte Netzroller

Der Deutsche und der gebürtige Tschechoslowake lieferten sich im Masters-Finale 1988 ein denkwürdiges Match mit einem spektakulären Ende.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 04.11.2013, 08:15 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Der Madison Square Garden in New York, eine der ehrwürdigsten Sportstätten der Welt, war zwischen 1977 und 1989 Schauplatz des Saisonfinals der acht besten Spieler, damals bekannt unter dem Namen "Masters". Im Finale 1988 kam es zu einem der denkwürdigsten Spiele, die es beim Saisonfinale gab. Boris Becker und Ivan Lendl duellierten sich im Endspiel über vier Stunden - mit einem spektakulären Ende. tennisnet.com blickt auf den Klassiker zurück.

Die Favoritenrolle im Finale am 5. Dezember 1988 lag auf der Seite von Lendl. Das Masters im New Yorker Madison Square Garden war neben den US Open das Turnier des gebürtigen Tschechoslowaken. Lendl erreichte zum neunten Mal in Folge das Endspiel beim Masters und ging als dreifacher Titelverteidiger und fünfmaliger Masters-Sieger ins Finale. Für Becker war es das dritte Finale beim Saisonfinale der acht besten Spieler. 1985 und 1986 hatte er im Endspiel jeweils klar in drei Sätzen gegen Lendl verloren.

Becker-Hecht auf dem Teppich

Lendl spielte beim Masters das erste Turnier nach dreimonatiger Auszeit. Nach dem verlorenen US-Open-Finale und dem Verlust der Nummer eins hatte sich der Tschechoslowake einer Schulteroperation unterzogen. Becker hingegen kam dank zweier Turniersiege mit reichlich Selbstvertrauen nach New York. Sowohl Becker als auch Lendl verloren in der Gruppenphase ihr Auftaktmatch, spielten sich dann aber ins Finale vor. Bereits der erste Satz wurde zu einer intensiven Angelegenheit. Becker konterte den ersten Aufschlagverlust mit dem sofortigen Rebreak. Lendls Break zum 6:5 reichte dann aber zum Satzgewinn.

Becker musste im zweiten Satz alles geben, um nicht schnell ins Hintertreffen zu geraten. Mehrere Breakbälle musste der Deutsche abwehren und packte sogar seinen spektakulären Becker-Hecht auf dem rauen Teppichboden aus, mit dem er auch Erfolg hatte. Im Tiebreak war Becker voll da und sicherte sich den Satzausgleich. Die Sätze drei und vier wurden durch frühe Breaks entschieden. Lendl gewann den dritten Satz mit 6:3, Becker konterte mit dem 6:2 im vierten Satz. Der fünfte Satz musste die Entscheidung bringen, in dem es auch einen Tiebreak geben konnte.

Netzkante hilft Lendl

Becker hatte im fünften Satz den Vorteil, dass er mit seinem Aufschlag immer vorlegen konnte. Lendl wurde zunehmend nervöser und zweifelte mehrfach Entscheidungen der Linienrichter an. Doch der Deutsche konnte daraus kein Kapital schlagen und verschlug bei 1:0-Führung einen kinderleichten Schmetterball, mit dem er sich zwei Breakbälle hätte holen können. Die beiden Finalisten kämpften um jeden Zentimeter im Madison Square Garden. Immer wieder gab es spektakuläre Punktgewinne. Becker packte erneut seinen Hecht aus, den Lendl mit einem Rückhand-Passierschlag aus dem Handgelenk konterte. Bis zur 5:4-Führung von Becker hielten beide ihre Aufschlagspiele, Breakbälle waren bis dahin Fehlanzeige.

Und nun kam die Netzkante ins Spiel, die in den letzten Minuten des Endspiels eine tragende Rolle spielen sollte. Lendl hatte Glück mit einem Netzroller, der den heranstürmenden Becker überraschte, und glich zum 5:5 aus. Im darauffolgenden Aufschlagspiel von Becker schlug die Netzkante erneut zu, die dem Deutschen in den vorherigen Stunden einige Punkte gekostet hatten. Bei 15:15 hatte Lendl erneut Glück mit einem Netzroller. Becker wurde durch den Netzroller überlobt und gab schließlich sein Aufschlagspiel mit einem Doppelfehler ab. Lendl brauchte nur noch ausservieren, um seinen vierten Masters-Titel in Folge zu erringen.

High Noon im fünften Satz

Becker ertrug die glücklichen Punktgewinne von Lendl und seine eigenen Fehler erstaunlicherweise mit stoischer Ruhe. Was dann kam, war recht ungewöhnlich bei solch einem Spielstand. Lendl packte beim Seitenwechsel einen neuen Schläger aus der Folie aus, mit dem er sein letztes Aufschlagspiel bestreiten wollte. Bei 30:30 war Lendl schließlich nur zwei Punkte vom Triumph entfernt. Doch der Deutsche schaffte tatsächlich das Rebreak und zeigte seine berühmte Becker-Faust. Es war nun High Noon im Madison Square Garden. Die Entscheidung über Sieg und Niederlage musste nun in der knappsten aller Entscheidungen fallen: Tiebreak im fünften Satz.

Wie ausgeglichen dieses Finale war, zeigte ein Blick in die Statistik. Vor dem Tiebreak hatten beide Spieler 157 Punkte und 27 Spiele gewonnen. Auch der Tiebreak wurde ein zähes Ringen um jeden Punkt. Die Minibreaks von Lendl zum 1:0 und 3:2 glich Becker postwendend aus. Lendl egalisierte das Minibreak von Becker zum 4:3 ebenfalls sofort. Bei 5:5 und 162 erzielten Punkten von beiden Protagonisten war es schließlich so weit. Es sollte einen Matchball geben, entweder für Becker oder für Lendl. Becker suchte sein Heil in der Offensive, Lendl verschlug den Passierball ins Aus und der Deutsche hatte Matchball bei eigenem Aufschlag.

Bester Ballwechsel beim Matchball

Es folgte der beste Ballwechsel der Partie, ein ungewöhnlich langer Ballwechsel für einen schnellen Teppichboden. Becker musste über den zweiten Aufschlag gehen. Der Ballwechsel wollte kein Ende nehmen. Mal war Becker in der Defensive, mal war es Lendl, aber keine traute sich den Weg ans Netz. Schließlich schoben sich die beiden mit dem Rückhand-Slice den Ball lange zu. Mit dem 37. Schlag im Ballwechsel fiel dann die Entscheidung. Beckers Rückhand landete an der Netzkante und trudelte knapp hinters Netz auf die Seite von Lendl. Ausgerechnet die Netzkante, die Becker zuvor so viel Pech brachte, bescherte ihm nun seinen ersten Masters-Triumph. Nach 4:42 Stunden hieß es 5:7, 7:6 (5), 3:6, 6:2, 7:6 (5) für Becker.

Der Deutsche streckte die Arme etwas ungläubig in die Luft. Bevor es zum Shakehands mit Lendl kam, stürmte ein Fan auf den Platz und legte Becker die Deutschland-Fahne um die Schultern. Becker ließ sich von der jubelnden Menge feiern, warf seinen Schläger ins Publikum und umarmte seinen Vater. "Am Ende habe ich den Ball nicht gesehen. Ich habe einfach nur gespielt und bin gelaufen. Spielen und Laufen, ich wusste nicht mal den Spielstand", erklärte Becker.

Lendl: "Es ist herzzerreißend"

Für Lendl hätte das Match mit dem Netzroller beim Matchball nach dem ewig langen Ballwechsel kaum unglücklicher enden können. "Ich habe zu mir selbst gesagt: ‚Bitte, tue das nicht!' Aber es geschah. Wenn man das nicht unglücklich nennt, dann kann man nichts unglücklich nennen. Was kann man tun? Es ist herzzerreißend, aber du kannst dagegen nichts machen. Es war ein großartiges Match. Es gab nichts mehr, was ich hätte tun können, um zu gewinnen", erzählte Lendl. Die Regentschaft von "Ivan, dem Schrecklichen" im New York Madison Square Garden war zu Ende.

Viele Experten waren erstaunt, wie ruhig Becker im gesamten Finale geblieben war. "Ich bin an einem Punkt meiner Karriere und im Leben angekommen, wo ich einige Lektionen gelernt habe. Aber Gutes passiert nicht so einfach. Körperlich gesehen war es das härteste Match, das ich je gespielt habe. Dieses Turnier hat viel zu tun mit Prestige und Stolz. Ivan im Finale geschlagen zu haben, gibt mir noch mehr Befriedigung. Ich spiele das allerbeste Tennis meines Lebens", analysierte Becker, der sein Selbstvertrauen mitnahm und zwei Wochen später mit Deutschland erstmals den Davis Cup gewann. (Foto: GEPA pictures)

von Christian Albrecht Barschel

Montag
04.11.2013, 08:15 Uhr