Ein Spiel für die Ewigkeit und für Wimbledon 2011

Das Marathonmatch mit elf Stunden und fünf Minuten bekommt - wie es der Zufall so will - dieses Jahr seine Neuauflage.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 19.06.2011, 11:14 Uhr

Von Jörg Allmeroth aus London

Sam Duvall ist ein ziemlich geschäftstüchtiger Mann, der einem an der Haustür mühelos Versicherungen oder Staubsauger verkaufen könnte. Doch wenn der gewiefte Vizepräsident der Spieleragentur „Lagardere Tennis“ im vergangenen Jahr unterwegs war, um Sponsorenengagements für einen ganz besonderen Klienten zu verhandeln, dann waren seine Überredungskünste eigentlich kaum gefragt. „Wenn ich meinen Vortrag über John Isner hielt“, sagt Duvall, „und einer nachfragte, wer das noch gleich war, dann habe ich gesagt: Das ist der, der das längste Spiel der Tennisgeschichte gewonnen hat. Da wusste sofort jeder Bescheid.“ Nur dieser kurze Hinweis habe genügt, so Duvall, „um alle möglichen Türen zu öffnen.“

Das Spiel der Spiele hat mächtige Spuren hinterlassen und scheint irgendwie nie zu enden. Keiner, der dabei war, wird es jemals wirklich los. Nicht die beiden Helden von Court 18, John Isner aus Amerika und Nicolas Mahut. Nicht der Schiedsrichter Mohammed Lahjani, nicht die tausende Zuschauer, die es über drei lange Wimbledon-Tage sahen. Nicht die Reporter, die ehemaligen Stars und die Klubmanager von Wimbledon, die dicht gedrängelt auf der Terrasse des Fernsehzentrums jeden Schritt und Tritt verfolgten. Und auch nicht die ganze Tennis- und Sportwelt, die es magisch in ihren Bann zog, genau 11 Stunden und fünf Minuten lang – bis zu Isners majestätischem 6:4, 3:6, 6:7 (7:9), 7:6 (7:3), 70:68-Sieg.

Grandiose Werbung fürs Tennis

Und gerade jetzt, da alle Haupt- und Nebendarsteller noch einmal für die sentimentale Rückblickgeschichte ihre Erinnerungen aus dem Gedächtnis zusammengekramt und jedes Detail der verrückten Tennis-Saga rekapituliert haben, ist das Thema „Isner kontra Mahut“ unversehens auch wieder zur Vorschaustory geworden – und zwar seit jenem wiederum denkwürdigen Auslosungsmoment am Freitag, als die schicksalhaft aneinandergeketteten Profis Isner und Mahut tatsächlich für ein Erstrundenmatch im Wimbledonjahr 2011 ausgelost wurden. 1:16000 soll die mathematische Chance für diese Zaubernummer gewesen sein, doch genau so fielen die Kugeln. Und Isner sagte leicht verstört: „Dieses Spiel kann wohl nicht aufhören.“

„Grandiose Werbung“ fürs Tennis sei der Marathon unter allen Tennis-Marathons gewesen, hat Plaudertasche John McEnroe unlängst gesagt und hinzugefügt: „Isner hat das Spiel bestimmt sechs Monate seines Lebens gekostet.“ Das lässt sich gerade noch nicht feststellen, aber an die Nerven und Nieren ist es dem Zwei-Meter-Sechs-Giganten allemal gegangen, das Spiel der Spiele. In den drei Tagen da draußen auf Court 18 sowieso. Aber hinterher erst recht. Als Isner bei den US Open letztes Jahr mit einer Reportergruppe verabredet war, bat Mutter Karen die Berichterstatter inständig, „nicht gleich mit der Frage nach dem Spiel in Wimbledon zu kommen“: „John ist da ein bisschen allergisch.“

Mahut kaum noch bei Besinnung

Spät in der Gesprächsrunde kam Isner selbst auf den historischen Moment zurück: „Der Hype danach war gigantisch. Fernsehauftritte, Medientermine, Einladungen zu allen möglichen Events – mein Leben stand kopf. Ich musste erst mal eine Auszeit nehmen.“ Erst ein paar Monate später, nun ist es schon Frühling 2011, wird Isner sagen: „Es war lange Zeit auch eine Last, dieses Spiel. Aber alles in allem war es ein Segen für mich.“ Und fügt hinzu: „Wenn ich von einem Tag zum anderen aufhören würde, bliebe ja immer noch dieses Spiel. Ein Spiel für die Ewigkeit.“

Wie sie das alles durchgestanden haben, an drei Turniertagen, an denen sich schließlich keiner mehr für Federer, Nadal oder Serena Williams interessierte, sondern nur für sie, für Isner und Mahut, können der turmhohe Ami und der schmächtige Franzose selbst kaum noch erklären: „Ich hab´mir nur noch gesagt: Du musst auf beiden Beinen stehen bleiben. Deinem Gegner geht´s auch nicht besser“, sagt Isner. Mahut, den Isners Matchball bei 70:68 „traf wie ein Messerstich ins Herz“, sagt, er sei teilweise wie „ein Betrunkener“ über den Court geirrt, „kaum noch bei Besinnung“: „Ich war nur noch aus dem Unterbewusstsein gesteuert.“

Schiedsrichter Lahjani ist froh, dabei gewesen zu sein

Und während sie spielen und spielen und spielen, werden sie, John Isner und Nicolas Mahut, schließlich zu den meistbeachteten Sportlern des Planeten. Selbst die Fußball-WM in Südafrika verdrängen sie von den Titelseiten, die beiden Gladiatoren, die auf einem grünen Tennisfeld „heroisch“ (The Times) um den Sieg kämpfen. In vier Sätzen am Dienstag. Bis zum 59:59 im fünften und letzten Akt am Mittwoch. Und dann bis zum 70:68 am Donnerstag. An diesem 24. Juni, dem Tag, an dem sich der Vorhang dann senken wird, ist schon alles anders. Und daran erinnert sich Mahut, der Verlierer, der eine Stunde lang bittere Tränen in der Umkleidekabine vergießt, noch immer mit einem tröstlichen Gefühl: „Als wir da zu Platz 18 gingen, John und ich, standen die Leute auf dem ganzen Weg Spalier und klatschten. Es war genau so, als wenn die Queen da durchmarschiert wäre.“

Es gab noch einen dritten Mann in diesem Spiel, den schwedischen Stuhlschiedsrichter Mohammed Lahjani, der keineswegs vergessen werden darf. Der 45-jährige Referee, eine der charismatischsten Figuren auf dem Hoch-Sitz über dem Court, fühlt sich im nachhinein mit der Leitung der Marathon-Partie „beschenkt wie zu Weihnachten“: „So bin ich zu einem Teil der Tennisgeschichte geworden.“ 11 Stunden und 5 Minuten hatte er eiserne Disziplin gezeigt, sich keine Fehler und schon gar nicht Toilettenpausen geleistet. Er habe sich einfach verboten, „ans Essen, Trinken oder Zur-Toilette-Gehen zu denken“, sagt Lahjani.

Fünfter Satz ohne Tiebreak macht es möglich

Am späten Mittwochabend und am Donnerstag, als das Drama immer verrücktere Züge annimmt und sogar die Anzeigetafel auf Platz 18 ihren Geist aufgibt, ist rund um die Bühne des Marathons ganz Wimbledon dem Spiel verfallen. „In der Players Lounge standen Spieler, ihre Tennisclans und Manager und die Leute vom Klub da wie vom Donner gerührt“, sagt der Amerikaner Andy Roddick, „es gab nur noch ein Thema: Isner gegen Mahut.“ Profis gehen auf andere Courts, beginnen und beenden ihre Matches. Und Isner und Mahut spielen immer noch. Bei 35:35 sagt der Serbe Novak Djokovic in einer Pressekonferenz, man solle bei 50:50 einen Tiebreak spielen lassen. Es wird herzhaft gelacht. Aber nicht aufgehört auf Platz 18, das versichert in wohlgesetzten Worten der All England Club: „Der fünfte Satz ohne Tiebreak macht erst solche unvergesslichen Spiele in Wimbledon möglich.“

Als dann alles vorbei ist auf Platz 18, als auch Isner in Runde 2 saft- und kraftlos ausgeschieden ist (0:6, 2:6 und 3:6 gegen den Holländer Thiemo de Bakker), meldet sich etwas später ein Mathematiker zu Wort. Man hat ihn gefragt, wann der Wahrscheinlichkeit nach wieder ein ähnlich langes Match im Tennis stattfinden werde. „In etwa 200 Jahren“, sagt er. Vielleicht bereut er die Vorhersage. Seit feststeht, dass Isner und Mahut auch in Wimbledons Jahrgang 2011 wieder um einen Platz in der zweiten Runde kämpfen.

Fakten zum längsten Spiel der Geschichte:

Das längste Spiel: 11 Stunden und 5 Minuten (8:11 Std. in Satz 5)

Der längste Satz: 70:68 (davor 21:19)

Das Match mit den meisten Spielen: 183, allein 138 in Satz 5

Die meisten gespielten Punkte in einem Match: 980 (711 in Satz 5)

Die meisten Asse eines Spielers in einem Spiel: Isner 112 ( Mahut 103)

Eingesetzte Ballkinder: 42

Verbrauchte Bälle: 120

Foto: GEPA pictures

von tennisnet.com

Sonntag
19.06.2011, 11:14 Uhr