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Mit einer Wildcard zum Wimbledonsieger

tennisnet.com blickt auf den unglaublichen Lauf des Kroaten und auf das emotionale Wimbledonfinale im Jahr 2001 zurück.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 16.06.2011, 09:43 Uhr

Goran Ivanisevic

Von Christian Albrecht Barschel

Der zweite Platz ist nicht gut genug im Sport. Das musste auch Goran Ivanisevic immer wieder erfahren. Doch beim Wimbledonturnier 2001 erfüllte sich der Kroate seinen lange gehegten Traum vom Wimbledonsieg. tennisnet.com blickt auf das Märchen von Goran Ivanisevic vor zehn Jahren zurück.

Der Herr der Asse und der Fluch des ewigen Zweiten

Wer sich Spiele mit Goran Ivanisevic anschaute, durfte nicht mit langen Ballwechseln rechnen. Stets kam es zum gleichen Muster: Aufschlag Ivanisevic, Ass Ivanisevic. Der Kroate bekam den Titel "Herr der Asse" verpasst und schlug im Jahr 1996 die Rekordanzahl von 1.477 Assen. Trotz des herausragenden Aufschlags versagten ihm jedoch in entscheidenden Momenten meist die Nerven und ihm haftete der Ruf des ewigen Zweiten an - bis zu jenem Wimbledonturnier 2001.

Aber bis es zu dem größten Triumph in der Tenniskarriere von Ivanisevic kam, nahm er 13 vergebliche Anläufe, um auf dem heiligen Rasen in Wimbledon zu gewinnen. Als 18-Jähriger stand er 1990 bereits im Halbfinale gegen Boris Becker. Zwei Jahre später ging er als großer Favorit in das Endspiel gegen Andre Agassi. Obwohl er insgesamt 39 Asse im Finale servierte - zwei mehr als Agassi im gesamten Turnier - musste er sich dem Amerikaner in fünf Sätzen beugen. Wiederum zwei Jahre später erreichte Ivanisevic erneut das Endspiel an der Church Road. Dieses Mal war er aber gegen Pete Sampras chancenlos.

Ivanisevic und seine fünf Gegner

Wimbledon schien immer mehr zum Fluch zu werden für den Kroaten, der 1995 wiederum das Halbfinale erreichte und gegen Sampras verlor. 1998 erreichte Ivanisevic mit einem denkwürdigen Sieg im Halbfinale gegen Richard Krajicek mit 15:13 im fünften Satz sein drittes Endspiel. Sein Gegner dort war wieder Sampras. Und die Ass-Maschine aus Split war dicht dran, sich seinen Traum vom Sieg in Wimbledon zu erfüllen. Doch in den entscheidenden Momentan versagten Ivanisevic wieder die Nerven und er ging nach fünf Sätzen als Verlierer vom Platz. Nach seiner 13. Wimbledonteilnahme im Jahr 2000 und dem Ausscheiden in der ersten Runde rechnete wohl keiner mehr mit einem Sieg von Ivanisevic.

Der Kroate stand sich oft selbst im Weg. Sein temperamentvolles Verhalten auf dem Platz, das oft in Flüchen und dem Zerbrechen von seinen Schlägern ausartete, machten ihn zu einem der charismatischsten Tennisspieler seiner Zeit. Er selbst sagte, dass er es stets mit fünf Gegnern während eines Matches zu tun habe: Schiedsrichter, Publikum, Balljungen, Platz und sich selbst.

Gott schenkt Ivanisevic die Wildcard und den Regen

Vor dem Wimbledonturnier 2001 ist Ivanisevic, mittlerweile 29 Jahre alt, aufgrund von immer wiederkehrenden Schulterproblemen nur auf Platz 125 in der Weltrangliste platziert und benötigt für die Teilnahme an seinem Lieblingsturnier eine Wildcard, um überhaupt dabei sein zu dürfen. Die Veranstalter tun ihm diesen Gefallen und das Märchen nimmt fortan seinen Lauf.

Der Kroate spielt sich in einen Rausch. Und es sind auch nicht irgendwelche Spieler, die Ivanisevic auf dem Weg zum Titel schlägt, sondern es liest sich wie die Creme de la Creme des Tennissports. Mit Erfolgen über Grand-Slam-Sieger und Weltranglisten-Erste wie Carlos Moya und Marat Safin und Siegen über die starken Rasenspieler Andy Roddick und Greg Rusedski erreicht er das Halbfinale. Dort wartet ein Spieler, der ebenso sehnlich von einem Triumph in Wimbledon träumt: Lokalmatador und Publikumsliebling Tim Henman.

Das Match der beiden Thron-Anwärter wird zu einer regelrechten Regenschlacht. Nachdem die Partie an zwei Tagen jeweils wegen des üblichen Londoner Schmuddelwetters abgebrochen werden muss, kann erst am Sonntag zu Ende gespielt werden. Und da hat Ivanisevic das bessere Ende für sich, schlägt Henman in fünf Sätzen und zieht in sein viertes Endspiel in Wimbledon ein. Dort trifft er auf den Australier Patrick Rafter, zweimaliger US-Open-Sieger und Finalist aus dem Vorjahr. Schon nach seinem Sieg gegen Henman ahnt Ivanisevic: "Es war alles Schicksal. Gott hat mir erst eine Wildcard gegeben und dann den Regen geschickt."

Finale am People's Monday

Dadurch, dass das Halbfinale erst am Sonntag zu Ende gespielt werden kann, steht auch fest, dass das Finale nicht traditionell am Sonntag stattfinden kann, sondern einen Tag später am Montag. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der All England Championchips wird ein Finale erst am Montag beginnen. Und das ist für die vielen Tennisfans eine große Chance, sich noch Tickets zu besorgen, die sonst eher den exklusiveren Kreisen vorbehalten sind. Denn aufgrund des Regens gehen die Karten in den freien Verkauf. Und so wurde der "People´s Monday", wie ihn die Briten nennen, zu einem der denkwürdigsten Tennisereignisse aller Zeiten.

Der Centre Court ist voll besetzt mit kroatischen und australischen Fans, die ausgestattet mit den jeweiligen Fahnen des Landes eine Atmosphäre wie in einem Fußballstadion zaubern. Solch eine Stimmung gab es bei einem Tennismatch wohl noch nie - und das ausgerechnet im so förmlichen Wimbledon. Mit Ivanisevic und Rafter stehen auch zum vorerst letzten Mal zwei waschechte Serve-and-Volley-Spieler, die bei jedem Aufschlag bedingungslos an das Netz stürmen, im Finale von Wimbledon. Den besseren Start erwischt der Kroate, der Rafter zum 2:0 den Aufschlag abnimmt und die Führung auch nicht wieder hergibt. Mit 6:3 sichert sich Ivanisevic den ersten Satz.

Fußfehler bringt Ivanisevic aus der Fassung

Der zweite Satz beginnt mit umgekehrten Vorzeichen: Dieses Mal ist es Rafter, der das Break zum 2:0 schafft und es bis zum Satzgewinn von 6:3 durchserviert. Im dritten Satz ist nun der Kroate wieder am Drücker, der trotz Behandlung an der Schulter das entscheidende Break zum 4:2 schafft. Mit 6:3 geht der dritte Satz an Ivanisevic, der nun kurz vor der Sensation steht. Das Match wird nun immer intensiver. Bei einer 3:2-Führung im vierten Satz für Rafter hat Ivanisevic einen Breakball gegen sich.

Er macht mit dem Aufschlag den Punkt, doch der Schiedsrichter entscheidet auf Fußfehler. Der zweite Aufschlag landet im Aus und das Break ist perfekt. Ivanisevic verliert daraufhin die Beherrschung, schmeißt seinen Schläger und giftet gegen den Schiedsrichter. "Das war mein erster Fußfehler im gesamten Turnier und der zweite Aufschlag wurde Aus gegeben, obwohl ich dachte, er wäre auf der Linie", sagte Ivanisevic später. Rafter hat nun einfaches Spiel und breakt Ivanisevic erneut zum 6:2-Satzgewinn.

Gänsehautatmosphäre auf dem Centre Court

Das Match geht schließlich in den fünften Satz. Viele denken, dass der Kroate dem Druck nervlich nicht Stand hält und an der Fußfehlerentscheidung zerbrechen wird. Doch Ivanisevic bleibt fokussiert und es entwickelt sich ein absoluter Tennisthriller. Die Stimmung auf den Rängen beginnt immer elektrisierender zu werden. Jeder Punktgewinn wird von den Fans mit "Goran"-Sprechchören und lauten "Rafter"-Rufen gefeiert, was auch in der Retrospektive immer noch eine Gänsehaut bei jedem noch so erprobten Tenniszuschauer zaubert.

Ivanisevic hat den Nachteil, dass er im fünften Satz mit seinen Aufschlagspielen immer nachziehen muss. Beide Spieler geben sich aber keine Blöße. Es ist klar, dass der erste Aufschlagverlust die Niederlage bedeuten würde. Bei 6:7 serviert Ivanisevic zum dritten Mal gegen den Matchverlust. Es steht 0:30, und Rafter ist nur noch zwei Punkte vom Wimbledonsieg entfernt. Doch der Kroate bleibt cool und befreit sich aus der brenzligen Situation.

Zwei Doppelfehler bei Matchbällen

Es steht nun 7:7 und knapp drei Stunden sind gespielt. Die Stimmung auf dem vollbesetzten Centre Court ist kaum noch zu toppen. Ivanisevic ist auf einmal voll da und hat bei 15:40 zwei Breakchancen. Mit einem Vorhand-Winner nutzt er seine erste Möglichkeit und holt sich das Break zum 8:7. Nur noch ein paar Augenblicke trennen ihn vom größten Erfolg in seiner Karriere. Nach einem Doppelfehler zum 15:30 serviert er zwei Asse in Folge und holt sich seinen ersten Matchball. Ivanisevic schickt Stoßgebete zum Himmel. Aber diese scheinen nicht zu helfen. Ein Doppelfehler verhindert vorerst den Sieg - Dramatik pur!

Ein erneuter Service-Winner sorgt für den zweiten Matchball. Doch dem Kroaten versagen die Nerven. Ein erneuter Doppelfehler und es heißt wieder Einstand. Ein Passierschlag von Rafter landet dann denkbar knapp im Aus und Ivanisevic hat seinen dritten Matchball. Die Zuschauer toben und die Stimmung auf dem Platz kocht förmlich über. Ivanisevic muss lachen. Aber auch der dritte Matchball soll es nicht sein, denn ein perfekter Lob von Rafter landet im Feld. Ein erneuter Aufschlag-Winner von Ivanisevic führt zum vierten Matchball.

Der Kroate lässt sich nun mehr Zeit. Wieder kommt der erste Aufschlag nicht. Den zweiten serviert er durch die Mitte auf Rafters Vorhand und stürmt wie gewohnt an das Netz. Und in diesem Netz bleibt der Return auch hängen. Game, Set and Match Ivanisevic! Der Kroate hat es tatsächlich geschafft. Der lang gehegte Traum vom Wimbledonsieg ist damit erfüllt - und das als erster Spieler in der Geschichte, der mit einer Wildcard ein Grand-Slam-Turnier gewinnt.

"Die besten 15 Tage in meinem Leben"

Ivanisevic lässt daraufhin seinen Gefühlen freien Lauf. "Ich war immer der Zweite. Die Leute haben mich respektiert, aber der zweite Platz ist nicht gut genug. Ich bin jetzt Wimbledonsieger. Was auch immer ich tue in meinem Leben, ich bleibe Wimbledonsieger." Er stürmt in seine Box und umarmt seinen Vater, der aus Kroatien angereist ist. "Das waren 15 magische Tage. Die besten 15 Tage in meinem Leben."

Nach seinem Wimbledontriumph wird Goran Ivanisevic in seiner kroatischen Heimat in Split von 200.000 Fans frenetisch empfangen und als Volksheld gefeiert. Vergessen sind die drei Finalniederlagen auf dem heiligen Rasen. Manchmal werden Märchen eben doch wahr.

von Christian Albrecht Barschel

Donnerstag
16.06.2011, 09:43 Uhr